Herr Kühn, warum wurde gerade in Baden-Württemberg unter grün-rot ein Integrationsministerium eingerichtet?
Grün-rot ist sich der Vielfalt unseres Landes bewusst, und wir wollen gemeinsam mit den MigrantInnen die großen Chancen, die sich daraus ergeben, für die Zukunft nutzen. Baden-Württemberg ist das deutsche Flächenland mit dem höchsten Migrantenanteil. Fast 25 % – oder in Zahlen: 2,7 Millionen Menschen – in unserem Bundesland haben Wurzeln in einem anderen Land. Viele arbeiten bereits seit Jahrzehnten und in nunmehr vierter Generation in Baden-Württemberg. Nichtsdestotrotz ist das Thema natürlich auch in allen anderen Bundesländern wichtig und brennend. Wir haben deshalb mit der Schaffung des Ministeriums auch ein politisches Signal für ganz Deutschland setzen wollen: Wir nehmen dieses von Schwarz-Gelb über Jahrzehnte vernachlässigte Thema endlich ernst und wollen alle damit verbundenen Probleme und Chancen gezielt und ganzheitlich angehen, statt Integration immer nur als Randthema in Talkshows abzuhandeln.
Aber ist Integration tatsächlich noch immer ein Problem? Immer mehr MigrantInnen lassen sich einbürgern, und diejenigen, die als MigrantInnen bezeichnet werden, leben oft schon in der 3. oder 4. Generation hier!
Es ist richtig, dass die Einbürgerungszahlen in jüngster Vergangenheit wieder leicht zunehmen. Das ist erfreulich, aber die Probleme liegen nicht unbedingt nur in der Staatsangehörigkeit. Wir beobachten leider insbesondere im Sprach- und Bildungsbereich immer noch starke Unterschiede zwischen MigrantInnen und Nicht-MigrantInnen. Während die Abiturienten-Quote in Baden-Württemberg mittlerweile erfreulicherweise bei fast 40% liegt, schaffen nur knapp 10% der Jugendlichen mit Migrationshintergrund diesen Schulabschluss. Und man kann beobachten, dass die Gründe dafür schon früh beginnen: Bereits bei der Einschulung wird bei 60% der Kinder mit Migrationshintergrund ein Sprachförderbedarf diagnostiziert. Unter Kindern mit deutscher Muttersprache liegt der Anteil hier lediglich bei 25% – auch, wenn das immer noch erschreckend hoch ist!
Und was hat sich die Regierung nun konkret vorgenommen, um die Integration in Baden-Württemberg zu verbessern?
Es gibt ein paar sehr direkte Maßnahmen zur Verbesserung der angesprochenen Probleme im Bildungsbereich: wir wollen die Sprachförderung in Kindertagesstätten ausweiten und insgesamt mehr Angebote zur Betreuung von Kleinkindern schaffen. Das Geld aus der geplanten Erhöhung der Grunderwerbssteuer wird direkt und in voller Höhe in diesen Bereich fließen! Außerdem soll es in der Lehrerausbildung künftig verpflichtend werden, dass „Deutsch als Fremdsprache“ und „Interkulturelle Pädagogik“ von den StudentInnen belegt werden müssen. Und wir müssen insgesamt mehr LehrerInnen mit Migrationshintergrund an die Schulen bekommen, denn diese können mit ihrer interkulturellen Kompetenz sehr viel sensibler auf Kinder und Eltern mit Migrationshintergrund eingehen, weil sie deren Sorgen und Probleme oft aus eigener Erfahrung kennen.
Ist Integrationspolitik also demnach nur Bildungspolitik?
Nein, Bildungspolitik ist ein wichtiger Bestandteil von Integrationspolitik, aber Integrationspolitik geht viel weiter!
Integration ist insgesamt ein zweiseitiger Prozess – wir dürfen nicht nur immer wieder von MigrantInnen verlangen, sich an die Mehrheitsgesellschaft anzupassen, sondern auch die Mehrheitsgesellschaft muss ihrerseits auf MigrantInnen zugehen und die Vielfalt der Kompetenzen und Lebensweisen als Chance anerkennen!
Deshalb geht es in der Integrationspolitik auch darum, Diskriminierungen abzubauen und MigrantInnen ein Gefühl des „Willkommenseins“ zu geben. Dafür wurde bereits der Gesprächsleitfaden abgeschafft, der bisher bei Einbürgerungsverfahren galt und diskriminierende stereotype Fragen enthalten hatte – perspektivisch kann ich mir persönlich vorstellen, generell auf Einbürgerungstests zu verzichten. Außerdem werden wir uns dafür einsetzen, dass MigrantInnen, die schon länger hier leben, auf kommunaler Ebene das Wahlrecht erhalten. EU-BürgerInnen dürfen schon jetzt bei diesen Wahlen ihre Stimme abgeben, Menschen mit anderen Staatsangehörigkeiten nicht. Das ist ungerecht! Nur wer in einer Gemeinschaft mitentscheiden kann, wird sich auch wirklich mit ihr identifizieren. Eine ähnliche Ungleichbehandlung gibt es bei den Sprachtests für EhepartnerInnen, die nach Deutschland kommen. Wenn ein Amerikaner oder Australier seine Ehefrau nach Deutschland holt, muss diese kein Wort Deutsch können. Türkische oder russische EhepartnerInnen müssen hingegen vor der Einreise bereits Sprachkenntnisse vorweisen.
Derartige Ungerechtigkeiten setzen sich fort bei der Anerkennung von Bildungs- und Berufsabschlüssen. Wenn eine ukrainische Ärztin in Deutschland nur als Putzfrau arbeiten kann, weil ihr Abschluss nicht anerkannt wird, dann ist das ein Problem für die gesamte Gesellschaft, weil hier wichtige Potentiale verschenkt werden. Auch an dieses Problem wollen wir ran!
Der türkische Staatspräsident Gül wurde dieser Tage von Ministerpräsident Kretschmann in Baden-Württemberg empfangen. Was hat der Besuch gebracht?
In erster Linie wurden mit dem Staatsgast natürlich unsere Planungen in der Integrationspolitik vorstellt und diese mit ihm diskutieren. Besonders haben wir uns darüber gefreut, dass Staatspräsident Gül seinen hier lebenden Landsleuten Mut gemacht hat, sich gesellschaftlich und politisch einzubringen.
Darüber hinaus ging es bei dem Besuch auch um Themen wie Umwelt- und Energiepolitik, bei denen die Türkei sehr daran interessiert ist, von uns zu lernen. Gerade die Türkei ist für unsere Unternehmen aus der Branche der erneuerbaren Energien ein wichtiger Zukunftsmarkt. Auch der EU-Beitritt der Türkei war ein Thema des Treffens. Hier vertreten wir Grünen ja bekanntermaßen eine andere Linie als die Bundesregierung, die gegen einen Beitritt der Türkei zur Europäischen Union ist. Für mich ist nach diesem Treffen jedoch noch deutlich geworden: Die Türkei muss schnell Mitglied der Europäischen Union werden, denn wir haben große gemeinsame Ziele und Interessen, und die Türkei ist ein lebendiger Teil Europas.