Solidarität in Krisenzeiten bedeutet auch Verzicht. Eigene Bedürfnisse müssen hinter das Gemeinwohl gestellt werden – ein Kraftakt für uns alle. Aber wir dürfen jetzt nicht den Fehler machen, gesellschaftliche Solidarität und persönliche Freiheit gegeneinander auszuspielen, meint Andreas Lob-Hüdepohl.
Von Andreas Lob-Hüdepohl für Grüne Blätter 2/2020: Wir halten zusammen – auch mit Abstand
Solidarität zeigt sich in der Bereitschaft, eigene Interessen zugunsten vitaler Bedürfnisse anderer zurückzustellen und sogar schwere Nachteile in Kauf zu nehmen. Solche Solidarität war während des Lockdowns in höchstem Maß gefordert. Die Strategie der physischen Distanz hat einen Kollaps des Gesundheitssystems abgewendet. Das war notwendig und ist hoch erfreulich. Aber sie hat(te) schwerwiegende Begleitschäden: erhebliche Einschränkungen persönlicher und politischer Freiheitsrechte; bildungsbezogene, kulturelle und nicht zuletzt wirtschaftliche Schäden. Selbst gesundheitsrelevante Begleitschäden werden in Kauf genommen: aufgeschobene Operationen; nicht wahrgenommene ärztliche Versorgung; Unterversorgung von Personen, die in für Externe nicht mehr zugänglichen Einrichtungen der Alten- und Behindertenhilfe leben; Isolation und Vereinsamung alleinlebender Personen; Stress induzierte häusliche Gewalt gegen Kinder und Frauen und vieles mehr.
Die erstaunlich hohe Zustimmung zu den Pandemie-Maßnahmen belegt: Die staatlich verordnete Solidarität entspricht einer hohen Solidarbereitschaft in der Bevölkerung – selbst bei denen, die durch die Maßnahmen kaum Vorteile erwarten können, dafür aber hohe Lasten zu tragen haben. Solidarität ruht auf einem Grundverständnis von Zusammengehörigkeit, das zum wechselseitigen Beistand verpflichtet. In Zeiten physischer Distanz steht sie für soziale Nähe. Sie verkörpert eine Intuition, der zufolge sich das Wohl aller am Wohl der schwächsten Glieder einer Gesellschaft bemisst. Sie lebt aber auch von der Unterstellung, dass Nutzen und Lasten auf lange Sicht gerecht und fair verteilt sind und nicht ohne Not, also in einem angemessenen und nur wirklich erforderlichen Umfang eingefordert wird. Damit verbunden ist die Erwartung, dass die heute Solidarbereiten im Bedarfs- und Schadensfalle umgekehrt auf die Solidarität anderer setzen können. Solidarität, die grundsätzlich auf etwaige Gegenleistung verzichtet, ist moralisch hochherzig; politisch verordnen lässt sie sich aber nicht.
Die anstehenden und bereits ergriffenen Lockerungen müssen, ebenso wie die Kompensationsmaßnahmen für die aufgetretenen Schäden, diese Grundsätze beachten. Ansonsten würde die Solidarbereitschaft erodieren. Dabei dürfen gesellschaftliche Solidarität und persönliche Freiheit nicht gegeneinander ausgespielt werden. Sie bedingen einander. Denn gegen eine liberalistische Verkürzung besteht das Ideal einer freien Gesellschaft nicht darin, dass sich deren Mitglieder möglichst aus dem Weg gehen und sich nicht ins individuelle Gehege kommen.
Freiheit verwirklicht sich erst in einer Gesellschaft, in der die Vielfalt der Lebensentwürfe von Gleichen gemeinschaftlich erstritten und erlebt werden kann. Deshalb darf die Rückgewährung individueller Freiheitsrechte niemals zu Lasten jener gehen, deren menschenrechtliche Ansprüche unmittelbar von solidarischen Kraftanstrengungen aller abhängen.
Ein Beitrag aus unserer Mitgliederzeitschrift zum Thema Solidarität während der Conrona Pandemie: Grüne Blätter 2/2020: Wir halten zusammen – auch mit Abstand