Damit wir jetzt die richtigen Entscheidungen treffen können, brauchen wir mehr als reines Faktenwissen. Wir brauchen eine Ethik, die unsere moralische Intuition einbezieht und den Blick über unseren Tellerrand wirft. Wir brauchen Solidarität und Gerechtigkeit nicht nur in Europa, sondern weltweit.
Von Dr. Günther Renz für Grüne Blätter 1/2020: Aus der Krise wachsen Chancen
In der Verunsicherung, die die Corona-Pandemie bewirkt, ist zweierlei gefragt: Erstens das aktuell verfügbare Wissen – zu Infektionsrisiken, Krankheitsverläufen usw. – und zweitens die moralisch-ethische Bewertung, aus der persönliche und politische Entscheidungen hervorgehen.
Das Erstere bildet dabei die Grundlage, so begrenzt das Wissen um die Fakten auch ist. Denn oft ist klar, was zu tun ist, wenn klar ist, was der Fall ist.[1] Dazu verhilft die moralische Intuition. Der Sozialpsychologe Jonathan Haidt[2] hat Empfangskanäle ausgemacht, auf denen praktisch alle Menschen moralisch ansprechbar sind. Ähnlich wie beim Geschmackssinn verfügen wir über moralische „Rezeptoren“:
- Wir können Mitgefühl empfinden.
- Wir haben ein Empfinden für „Heiliges“.
- Wir wehren uns gegen Unterdrückung und streben nach Freiheit
- Wir haben ein intuitives Verständnis für Gerechtigkeit und Fairness.
- Wir sind bereit zur Kooperation.
Die Unterschiede in unserer moralischen Bewertung liegen oft daran, dass wir diese Aspekte unterschiedlich gewichten und das tun auch die unterschiedlichen Ethiken:
Mitgefühl trifft Autonomie
So können für die einen ihr Mitgefühl zentral sein und die Bilder aus Italien völlig ausreichen, um die Einschränkung der eigenen Freiheiten zu tolerieren. Aber sie werden auch mitfühlen mit den isolierten vulnerablen Personen, Möglichkeiten des Kontakts einfordern – und sich z.B. auf eine Care-Ethik im Sinne Carol Gilligans [3]
berufen.
Für anderen ist das Leben an sich heilig und sie werden deshalb Maßnahmen zur Erhaltung des Lebens befürworten. Jürgen Habermas versteht das Grundgesetz so, dass der (von der Menschenwürde untrennbare) Lebensschutz zentral ist, weil Leben die Voraussetzung aller anderen Grundrechte (z.B. Versammlungs- und Religionsfreiheit) ist.[4]
Wieder andere können die Einschränkung der persönlichen Freiheit als moralisch inakzeptabel empfinden. Julian Nida-Rümelin sagt: „Autonomie, Autonomie, Autonomie – und zwar aller, auch der Älteren und der Vorerkrankten!“[5]
Was ist gerecht – die Frage stellt sich durch Corona neu
Und wahrscheinlich werden alle Gerechtigkeitsüberlegungen anstellen, um für die einzutreten, die besondere Belastungen tragen. Dazu gehören etwa Alleinerziehende, durch häusliche Gewalt Bedrohte und Kinder, die nicht über die nötigen Lernmittel verfügen. Auch die Generationengerechtigkeit im Blick auf die Staatsschulden sind ein Thema, das sich allerdings relativiert durch den Blick auf Erbschaften und Schenkungen von 400 Milliarden Euro im Jahr und deren unverdiente Verteilung.[6]
Folgenreiche Gerechtigkeitsüberlegungen stellen Utilitaristen an, die die gewonnen Lebensjahre abwägen wollen gegen den Preis der Lockdown-Maßnahmen. Der Utilitarismus stellt dafür einen einheitlichen Maßstab zur Verfügung: Die Summe an Wohlbefinden (pleasure) von allen (!) betroffenen Menschen. Als Recheneinheit kann der QALY (qualitätskorrigierte Lebensjahre) dienen: 1 QALY ist ein Lebensjahr bei bestem Wohlbefinden (oder zwei Lebensjahre mit mittlerem Wohlergehen). In Großbritannien darf eine medizinische Intervention, die einen QALY bringt, in der Regel nicht mehr als 30.000 Pfund kosten.[7] Verständlich, dass dort gezögert wurde, „um jeden Preis“ Leben zu retten. Es gibt Versuche einer QALY-Berechnung für die Corona-Maßnahmen – etwa vom Kieler Institut für Weltwirtschaft.[8] Seine Rechnung ist leicht nachzuvollziehen: Einen QALY setzt er mit 158.448 Euro an, also deutlich großzügiger als es im knapp bemessenen Gesundheitsetat Großbritanniens vorgesehen ist. Im Durchschnitt 6 gewonnene Lebensjahre mit gut 2/3 Lebensqualität ergeben dann 643.000 €, die pro Menschenleben investiert werden können. Bei wirtschaftlichen Verlusten durch die Lockdown-Maßnahmen von 225 Mrd. €, müssten dann 350.000 Menschenleben gerettet werden, damit sich diese „lohnen“.
Diese Berechnung, oder vielmehr Abschätzung, ist allerdings mit vielen problematischen Annahmen verbunden. Vor allem aber wird Vieles, um nicht zu sagen das meiste gar nicht einbezogen.
- Wie hoch sind die wirtschaftlichen Kosten ohne Lockdown, wenn ihn andere Länder nicht vollziehen?
- Wie hoch sind die Gesundheitskosten bei weiterlaufender Wirtschaft und freiem Infektionsgeschehen? Denn auch in diesem Szenario müsste jeder Betroffene 158.448 € pro QALY in Anspruch nehmen können.
- Wie ist eigentlich die Verminderung an Lebensqualität durch Trauer und Verzweiflung der Angehörigen zu verrechnen? Und würde der Utilitarist die Freude über vorzeitige Erbschaften dagegen rechnen?
- Und was ist mit der Erschöpfung der Pflegekräfte und Ärzt*innen? Was mit der moralischen Zerrüttung, die wir im Gefolge einer solchen Lage zu gewärtigen hätten?
Müsste ein Utilitarist angesichts einer solchen Folgenabschätzungen nicht unbedingt für Schutzmaßnahmen gegen die Ausbreitung eines einigermaßen gefährlichen Virus wie es Covid-19 offenbar ist, plädieren? Moralische Intuitionen und Überzeugungen einer kaum durchführbaren Rechenoperation zu opfern, scheint kaum akzeptabel zu sein.[9] Aus diesem Grund hat schon John Stuart Mill den kühlen Utilitarismus von Jeremy Bentham entscheidend abgewandelt und nähert sich de facto einer tugendethischen Position.[10]
Nahezu alle Ethiken kennzeichnet ihre Forderung nach Verallgemeinerbarkeit. Sie gehen damit über unsere moralischen Intuitionen hinaus. Denn unsere Fähigkeit zur Kooperation und Solidarität (die sich durchaus beeindruckend in der bisherigen Krise zeigte), hat die Schattenseite, dass wir geneigt sind, Andere auszuschließen.[11] Weltweite Gerechtigkeit, ein Handeln, als hätte man Mitgefühl mit allen, auch den Flüchtenden oder Corona-Infizierten in Indien, zu so radikalen Schlüssen kommt unser Verstand, wenn wir ihn ergänzend zu unseren moralischen Intuitionen, zu Worte kommen lassen.
- [1]In Anlehnung an eine Formulierung von Hermann Lübbe, der von der sehr allgemeinen Norm eines Mediziners spricht, die darüber mit bestimmt, „was fällig ist, wenn der Fall ist, was für wahr zu halten die Wissenschaft gute Gründe liefert“, Lübbe 1990, S.47.
- [2]Haidt 2012. Haidt nennt sechs Intuitionen für folgende Gegensatzpaare: care/harm, liberty/oppression, fairness/cheating, loyalty/betrayal, authority/subversion, sanctity/degradation. Authority/subversion wurde von mir nicht aufgeführt. Haidts Ausführungen überzeugen hier nur mit Modifikationen: Wie Joseph Henrich (Henrich 2015) überzeugend dargelegt hat, gibt es eine in der Humanevolution entwickelte Neigung, Respekt vor kulturellem Wissen zu haben. Diese sechste (und tatsächlich geradezu moralisch gefärbte) Intuition, sollte sich in unserer wissenschaftlich geprägten Kultur im Respekt vor wissenschaftlicher Erkenntnis wiederfinden lassen.
- [3]Gilligan 1998.
- [4]Habermas und Günther 2020.
- [5]Nida-Rümelin und Schloemann 2020.
- [6]So eine Studie des DIW von 2017: https://www.diw.de/sixcms/detail.php?id=560982. Davon wurden 2018 nur 5,7 Mrd. € Erbschaftssteuer und 1 Mrd. Schenkungssteuer fällig (2017: 5 und 1,3 Mrd.), vgl. destatis.de.
- [7]Dillon 2015.
- [8]Jung 2020.
- [9]Und: Wie weit in die Zukunft meint eigentlich ein Utilitarist rechnen zu müssen bzw. zu können?
- [10]Und: Mill 2010. Vgl. S.37: „Der Utilitarismus kann sein Ziel daher nur durch die allgemeine Ausbildung und Pflege eines edlen Charakters erreichen, selbst wenn für jeden Einzelnen der eigene Edelmut eine Einbuße an Glück und nur jeweils der Edelmut der anderen einen Vorteil bedeutete.“
- [11]Wohl die größte moralische Schwäche unserer moralischen Ausstattung: Die Fremden können interessante Handels- (und auch Sexualpartner) sein, aber das Misstrauen und die Aggressionsbereitschaft sind nicht leicht zu sublimieren und zu überwinden. Vgl. z.B. das ausgezeichnete Buch von Berreby: Us and them, Berreby 2008
Literaturverzeichnis
- Berreby, David (2008): Us and them. The science of identity. Chicago: University of Chicago Press.
- Dillon, Andrew (2015): Carrying NICE over the threshold. Hg. v. NICE. Online verfügbar unter https://www.nice.org.uk/news/blog/carrying-nice-over-the-threshold, zuletzt geprüft am 23.06.2020.
- Gilligan, Carol (1998): Die andere Stimme. Lebenskonflikte und Moral der Frau. Unter Mitarbeit von (Übers.) Brigitte Stein. 6. Aufl., 30. – 35. Tsd, Neuausg. München: Piper (Serie Piper, 838).
- Habermas, Jürgen; Günther, Klaus (2020): Freiheit! Lebensschutz! – Ein Gedankenaustausch. In: DIE ZEIT 2020, 06.05.2020 (20). Online verfügbar unter https://www.zeit.de/2020/20/grundrechte-lebensschutz-freiheit-juergen-habermas-klaus-guenther, zuletzt geprüft am 23.06.2020.
- Haidt, Jonathan (2012): The righteous mind. Why good people are divided by politics and religion. London: Allen Lane.
- Henrich, Joseph (2015): The secret of our success. How culture is driving human evolution, domesticating our species, and making us smarter. Princeton, Oxford: Princeton University Press.
- Jung, Frank (2020): „Corona-Lockdown ist ökonomischer Irrsinn“. Kieler Institut für Weltwirtschaft legt Kosten-Nutzen-Analyse vor – und wirft dabei moralische Fragen auf. In: shz 2020, 29.04.2020. Online verfügbar unter https://www.shz.de/regionales/schleswig-holstein/wirtschaft/kieler-institut-fuer-weltwirtschaft-corona-lockdown-ist-oekonomischer-irrsinn-id28183722.html.
- Lübbe, Hermann (1990): Religion nach der Aufklärung. 2. Aufl. Graz: Verl. Styria.
- Mill, John Stuart (2010): Utilitarianism. Der Utilitarismus. Englisch /Deutsch. Unter Mitarbeit von übersetzt und hg.v. Dieter Birnbacher. [Nachdr.]. Stuttgart: Reclam (Reclams Universal-Bibliothek, 18461).
- Nida-Rümelin, Julian; Schloemann, Johan (2020): „Wir müssen Licht am Ende des Tunnels sehen“. Autonomie! In: Süddeutsche Zeitung 2020, 23.05.2020. Online verfügbar unter https://www.sueddeutsche.de/kultur/coronavirus-lockerungen-risikogruppen-julian-nida-ruemelin-interview-philosophie-1.4914827?reduced=true, zuletzt geprüft am 23.06.2020.
Ein Beitrag aus unserer Mitgliederzeitschrift zum Thema Corona und die Folgen: Grüne Blätter 1/2020: Aus der Krise wachsen Chancen