Passend zum neuen Jahr ist die Debatte um die Agenda 2010 neu entbrannt und steht einmal mehr die Hartz IV-Gesetzgebung im Fokus der Diskussion. Wir Grüne führen die Debatte um eine sozial gerechte Absicherung seit vielen Jahren und haben die Frage nach der Ausgestaltung und Reform des ALG-II intensiv in unserem Wahlprogramm bearbeitet. Für uns waren die konkreten Maßnahmen der Agenda 2010 nie sakrosankt, sondern wir sehen seit langem Veränderungsbedarf an wesentlichen Punkten. Für uns gilt seit jeher der Grundsatz: Grundsicherung statt Ausgrenzung. Mit seiner Forderung nach einer Arbeitspflicht für ALG-II-EmpfängerInnen und mehr Sanktionen hat Roland Koch die Realität jedoch auf den Kopf gestellt. Er selbst hat damals über den Bundesrat die harten Sanktionen in die Agenda 2010 hineingestimmt.
Koch gibt den unsozialen Rammbock, der dem wahlkämpfenden, selbsternannten „Arbeiterführer“ Jürgen Rüttgers den Spielraum erweitert. Die notwendige Debatte um Reformen an der Agenda verkommt so zu einem populistischen Wahlkampf, den Schwarz-Gelb gerne unter sich ausmachen möchte. Wir Grüne lassen das der Union nicht durchgehen.
Wer wie Roland Koch Vokabeln wie „Arbeitspflicht“ und „Abschreckung“ in die Debatte einbringt und Menschen ohne Job als chronisch faul und als Arbeitsverweigerer stigmatisiert, vergiftet das gesellschaftliche Klima und betreibt die Spaltung der Gesellschaft. Keine der diffamierenden Behauptungen Kochs trifft zu. Arbeitssuchende sind nicht arbeitsunwillig; tatsächlich fehlen aktuell rund fünf Millionen Vollzeitarbeitsplätze in Deutschland.
Auch die Rufe nach gesetzlichen Verschärfungen sind vollkommen absurd, weil schon heute Arbeitssuchende quasi jeden Job annehmen müssen, wenn sie nicht die Kürzung ihrer Regelsätze riskieren wollen. Genauso abwegig ist die Behauptung, die Jobcenter seien zu „milde“ im Umgang mit Sanktionen. Indem die Regierung im Wahlkampf bewusst Widersprüche produziert und damit von ihrer Agenda der Umverteilung von unten nach oben ablenkt, schürt sie absichtlich Ressentiments gegen Arbeitssuchende. Für uns Grüne gilt: Wer ohne Erwerbsarbeit ist oder sich aus anderen Gründen in einer Notlage befindet, muss ein Leben in Würde und Selbstbestimmung führen und sich auf eine armutsfeste Existenzsicherung verlassen können. Er muss außerdem Unterstützung bei dem Weg aus der Arbeitslosigkeit heraus bekommen. In diese Richtung muss die SGB II–Gesetzgebung weiterentwickelt werden. Und wer erwerbstätig ist, hat Anspruch auf eine Arbeit in Würde und auf einen Lohn, von dem man auch leben kann.
Hartz als Wahlkampfschlager
Im Zentrum der Fortentwicklung und Neuausrichtung der Grundsicherung für Arbeitssuchende muss stehen, ob mit den entsprechenden Maßnahmen eine unmittelbare Verbesserung der Situation der ALG-II-BezieherInnen erreicht wird. Diesem Grundsatz wird keiner der zurzeit vorliegenden Vorschläge gerecht.
Passend zum NRW-Wahlkampf haben Vertreter von Union, FDP und SPD ihr Herz für arme Kinder und Alleinerziehende scheinbar wiederentdeckt. Doch gerade mit dem Wachstumsbeschleunigungsgesetz hat Schwarz-Gelb ein 3-Klassen-System etabliert, das die 1,8 Millionen Kinder von ALG-II-EmpfängerInnen im Regen stehen lässt. Von den beschlossenen Kindergelderhöhungen profitieren sie nicht. Fakt ist auch, dass die Große Koalition in den letzten Jahren nichts zur Verbesserung der Lage von ALG-II-BezieherInnen getan hat:
- Union und SPD haben in den letzten vier Jahren alle Forderungen nach höheren Kinderregelsätzen abgelehnt. Erst das erwartete Urteil des Bundesverfassungsgerichts wird voraussichtlich dafür sorgen, dass für Kinder und Erwachsene eine vernünftige Bemessungsgrundlage für die Regelsätze gegeben ist und sie angepasst werden. Erst das zwingt Union und FDP auf den fahrenden Zug aufspringen.
- Der Rechtsanspruch auf einen Krippenplatz, der vor allem Alleinerziehenden nutzen wird, steht auf der Kippe. Die Kommunen wissen auch wegen der schwarz-gelben Steuergeschenke an Erben und Hoteliers nicht, woher sie die dafür notwendigen Mittel hernehmen sollen.
- Die von der Bundesregierung geplante Zerschlagung der Jobcenter bedeutet das Ende der Hilfe aus einer Hand, mehr Bürokratie und mehr Klagen. Individuelle und passgenaue Hilfestellung für Arbeitssuchende rückt so in immer weitere Ferne.
- Mit ihrer Forderung nach höheren Zuverdiensten ohne flächendeckende Mindestlöhne, fördert die schwarz-gelbe Bundesregierung die Ausweitung des Niedriglohnsektors und staatlich subventioniertes Lohndumping, die Zahl der ALG-II-Anspruchberechtigten wird dann rapide ansteigen.
- Die von der Bundesregierung geplante Anhebung des Schonvermögens für Altersvorsorgevermögen ist richtig, nützt aber nur sehr wenigen Arbeitslosengeld-II-BezieherInnen. Von einer Regelsatzerhöhung würden hingegen alle profitieren.
Schritte zur Grünen Grundsicherung
Statt Mogelpackungen braucht es Verbesserungen für alle ALG-II-EmpfängerInnen. Wichtig sind vor allem die zuverlässige Sicherung des sozio-kulturellen Existenzminimums, die Stärkung der Rechte der Hilfebedürftigen und die Bereitstellung individueller und passgenauer Hilfen. Um diese Ziele zu erreichen, fordern wir Grüne die Weiterentwicklung des ALG-II zu einer Grünen Grundsicherung. Dafür sind folgende Schritte notwendig:
Von Arbeit leben können
Wer den ganzen Tag arbeitet, muss davon leben können. Mit dem Grünen Progressivlohnmodell wollen wir dafür sorgen, dass für Menschen mit einem niedrigen Einkommen mehr Netto vom Brutto übrigbleibt. Eine Verbesserung bei den Zuverdiensten ist richtig. Sie muss vor allem zusätzliche Handlungsspielräume für diejenigen eröffnen, die z.B. als Alleinerziehende nicht ohne weiteres in der Lage sind, einen Vollzeitjob auszuüben. Ohne Mindestlöhne ist die Anhebung der Zuverdienstmöglichkeiten nur eine Subventionierung von Unternehmen, die Niedriglöhne zahlen. Der Niedriglohnsektor würde weiter wachsen und die Löhne müssten durch Arbeitslosengeld II aufgestockt werden. Wir brauchen daher eine verbindliche Lohnuntergrenze von 7,50 Euro pro Stunde und flächendeckende Mindestlöhne. Mit dem grünen Progressivmodell wollen wir außerdem die Lohnnebenkosten im unteren Einkommensbereich radikal absenken, damit mehr Netto von kleinen Einkommen bleibt.
Mehr Geld für Große und Kleine
Die Grundsicherung für Arbeitsuchende muss neben der bloßen materiellen Absicherung auch die Teilhabe aller an der Gesellschaft ermöglichen. Deshalb fordern wir, dass das ALG-II neu berechnet werden muss. Für einen alleinstehenden Erwachsenen muss die Regelleistung sofort auf mindestens 420 Euro angehoben und in regelmäßigen Abständen angepasst werden. Für Kinder und Jugendliche müssen eigenständige Regelsätze ermittelt werden, die ihren tatsächlichen entwicklungsbedingten Bedarf decken. Ziel ist eine eigenständige, bedingungslose Kindergrundsicherung, die das sozio-kulturelle Existenzminimum und die Freibeträge für Erziehung und Betreuung umfasst.
Hilfe statt Repressalien
Anders als CDU und SPD verstehen wir unter Arbeitsmarktpolitik nicht lediglich die Verwaltung von Arbeitslosigkeit. EDV-Masken, Scheinangebote und Sanktionsdrohungen, deren Verschärfung Bundeskanzlerin Merkel und Ministerin von der Leyen jetzt fordern, helfen Arbeitsuchenden nicht weiter. Stattdessen brauchen wir qualifizierte, maßgeschneiderte und umfassende Hilfen. Das Ziel: den Betroffenen dauerhaft ein eigenständiges und selbstbestimmtes Leben zu ermöglichen.
Jobcenter erhalten
Gegen jeden Expertenrat will die Bundesregierung die Jobcenter zerschlagen und mit Arbeitsagentur und Kommune wieder zwei getrennte Ansprechpartner für Arbeitsuchende schaffen. Hilfe aus einer Hand – also die enge Verknüpfung und Abstimmung von arbeitsmarkt- und sozialpolitischen Maßnahmen – ist aber die Basis für die erfolgreiche und andauernde Integration der Betroffenen. Um dieses Prinzip zu bewahren, wollen wir Grüne mit einer Verfassungsänderung neben der Absicherung der Jobcenter auch die Ausweitung des Optionsmodells möglich machen.
Rechte der Arbeitssuchenden stärken
Die schematische Fallbearbeitung muss einem qualifizierten und individuellen Fallmanagement weichen. Die Hilfebedürftigen müssen zukünftig das Recht haben, zwischen Maßnahmen zu wählen. Eigene Vorschläge der Hilfebedürftigen müssen Priorität in der Hilfeplanung haben. Statt jährlich eine Milliarde Euro für meist sinnlose Ein-Euro-Jobs auszugeben, muss dieses Geld in die schulische und berufliche Qualifikation Arbeitsuchender fließen. Der Grundbedarf, der für echte Teilhabe notwendig ist, darf nicht durch Sanktionen angetastet werden. Wird Fähigkeiten, Wünschen und Wahlrecht nicht Rechnung getragen, dürfen keine Sanktionen verhängt werden. Solange nur Fordern, aber nicht mehr das Fördern stattfindet, fordern wir ein Sanktionsmoratorium beim ALG-II. Bei allen Trägern des SGB II müssen in Zukunft unabhängige Ombudsstellen eingerichtet werden, die in Konfliktfällen zwischen Hilfebedürftigen und Trägern vermitteln.
Individueller Anspruch auf Hilfe
Gegenseitige, finanzielle Abhängigkeit wird im ALG-II innerhalb der Bedarfsgemeinschaften zementiert. Dies benachteiligt vor allem Frauen. Für ein selbstbestimmtes Leben ist jedoch eine eigenständige Existenzsicherung unerlässlich. Wir wollen, dass die Grundsicherung langfristig vollständig individualisiert werden muss. Dieser Prozess muss von der Individualisierung anderer Systeme wie der Einkommensteuer sowie der Kranken- und Rentenversicherung begleitet werden. Ein erster Schritt der Individualisierung im ALG-II könnte es sein, bei der Anrechnung des Partnereinkommens zusätzliche Freibeträge zu verankern, wenn hilfebedürftige Menschen zuvor erwerbstätig waren.
Sozialer Arbeitsmarkt
Über 400 000 Menschen in Deutschland suchen einen Platz im Sozialen Arbeitsmarkt, also längerfristig öffentlich geförderte Beschäftigung. Daher fordern wir Grüne gemeinsam mit den Sozialverbänden die Ausweitung der Beschäftigung im Dritten Sektor und die Förderung von Beschäftigung in Integrationsfirmen. Getreu dem Motto „Arbeit statt Arbeitslosigkeit finanzieren“ wollen wir dafür die passiven Leistungen des Arbeitslosengeld II (Arbeitslosengeld II, Kosten der Unterkunft, u.Ä.) in ein Arbeitsentgelt umwandeln. Wir brauchen endlich ein Umsteuern beim Sozialen Arbeitsmarkt und die Einführung eines so genannten „Passiv-Aktiv-Transfers“ zur Option auf sozialversicherungspflichtige Beschäftigung.