Anna Cavazzini kämpft im Europäischen Parlament für Globale Gerechtigkeit. Eine faire Handelspolitik und die Zusammenarbeit mit dem Globalen Süden beschäftigen sie schon lange. Vor ihrer Zeit im Europaparlament hat Anna im Auswärtigen Amt, bei den Vereinten Nationen, bei Campact und Brot für die Welt gearbeitet. Mit uns spricht sie über internationale Solidarität in Krisenzeiten.
Das Gespräch führte Marcel Emmerich für Grüne Blätter 2/2020: Wir halten zusammen – auch mit Abstand
Der Ruf nach Solidarität wird in Krisenzeiten immer lauter, aber macht oft an der Grenze halt. Was mach für dich internationale Solidarität aus?
Anna: Zum einen geht es um Gerechtigkeit bei der Verteilung von Ressourcen. Es kann nicht sein, dass ein Bruchteil der Menschen die Vorteile der wirtschaftlichen Entwicklung genießt, während der große Teil der Weltbevölkerung nicht daran teilhaben kann. Wir müssen endlich fairen Welthandel ermöglichen. Zum anderen gehört dazu, dass wir unsere planetaren Grenzen endlich berücksichtigen. Die sichtbaren Folgen der menschengemachten Umweltveränderungen und des globalen Ressourcenverbrauchs zeigen uns, dass es so nicht weitergehen kann. Wenn wir jetzt nicht umdenken und handeln, brauchen wir mehr als eine Erde.
Was ist so ungerecht an unserem Wirtschaftssystem?
Anna: Die Länder des globalen Südens tragen – auf ganz unterschiedliche Art und Weise – die Last des wirtschaftlichen Wachstums der Industriestaaten. Noch immer fließen mehr Steuermittel aus afrikanischen Ländern heraus als Entwicklungshilfe hinein, da dort tätige ausländischen Konzerne häufig Steuervermeidung betreiben. Außerdem machen unsere Agrarprodukte deren Märkte in einigen Regionen kaputt und treiben die Klimakrise weiter voran. Die Industriestaaten verantworten die Hauptlast der Klimakrise, am heftigsten getroffen werden aber die Länder des Globalen Südens.
Und jetzt kam auch noch die Coronakrise. Hat sich die Lage dadurch verschärft?
Anna: Ja, die Krise trifft die Ärmsten der Armen. In Indien sind die Menschen in Scharen in ihre Heimatdörfer zurückgekehrt, wo sie keine Arbeit und wenig zu essen haben. In Bangladesch leiden die Näher*innen in der Textilindustrie stark darunter, dass die Modeunternehmen ihre Lieferungen nicht mehr wie vereinbart abgenommen haben.
Brauchen wir jetzt ein Umdenken bei der Globalisierung?
Anna: Ja, die Auswirkungen der Corona-Pandemie auf die Weltwirtschaft haben uns deutlich vor Augen geführt, wie anfällig globale Lieferketten sind. Wir müssen diese nachhaltig ausrichten und regionale Wirtschaftskreisläufe stärken.
Aber wenn wir wieder mehr selbst produzieren, leiden dann nicht die Menschen in den Entwicklungsländern, die ihre Industrie darauf ausgerichtet haben?
Anna: Da gibt es natürlich ein Spannungsfeld. Ich bin nicht der Meinung, dass alles relokalisiert werden sollte. Das würde tatsächlich Lohn und Brot vieler Menschen im globalen Süden zerstören. Wir müssen schauen, was sinnvoll ist. Zum Beispiel in den Bereichen Medizin und Landwirtschaft sollte die Europäische Union unabhängiger werden. Wir müssen auf sozial-ökologische Transformation der Wirtschaft setzen. Davon profitieren sowohl die Europäische Union als auch Entwicklungsländer.
Du beschäftigst dich im Europäischen Parlament vor allem mit Handelspolitik. In den letzten Jahren haben Handelsabkommen zugenommen. Was hat sich dadurch verändert?
Anna: Der Welthandel und die dazu gehörigen Strukturen und Regeln sind komplexer und unübersichtlicher geworden. Die Welthandelsorganisation (WTO) wurde von mächtigen Industrie ländern und deren Interessen stark dominiert. Das Regelwerk der WTO war deswegen lange blind gegenüber Themen wie Klima, Nachhaltigkeit und Menschenrechten. Wollen wir hier etwas ändern, müssen wir an die WTO ran.
Warum war und konnte? Die Welthandelsorganisation gibt es doch noch.
Anna: Mittlerweile ist die WTO geschwächt. Staaten und Regionen handeln an der WTO vorbei bilaterale Freihandelsabkommen aus. Außerdem wurde die WTO unter dem US-amerikanischen Präsidenten Donald Trump in die Handlungsunfähigkeit getrieben.
Also ist der Kampf für globale Gerechtigkeit schwieriger geworden?
Anna: Das kommt ganz darauf an. Generell ist es möglich, in einzelnen Abkommen mehr für Umwelt und Menschenrechte zu erreichen, als es nach den WTO-Regeln bisher der Fall war. Dennoch muss es für uns Grüne ein klares Ziel sein, die WTO-Strukturen zu verbessern und zu stärken. Auch wenn das ein steiniger Weg ist.
Wie könnte das aussehen?
Anna: Es ist sehr wichtig, dass das Vorsorgeprinzip gilt und Umwelt- und Sozialstandards einklagbar sind. Außerdem darf internationales Handelsrecht nationales Recht nie unterminieren. Ein nationales Klimaschutzgesetz darf mit internationalem Handelsrecht also nicht umgangen werden.
Ein Freihandelsabkommen, das zurzeit besonders in der Kritik steht, ist das Abkommen zwischen der EU und den Mercosur-Staaten Argentinien, Brasilien, Paraguay und Uruguay. Was ist daran problematisch?
Anna: Dieser Deal würde nichts verbessern. Er zementiert das unnachhaltige Wirtschaftssystem und ist ein Beispiel für ein Freihandelsabkommen, das nichts besser macht und am Gestern festhält. Das Abkommen würde die furchtbare Politik des brasilianischen Präsidenten Jair Bolsonaros adeln und die Zerstörung des Regenwaldes im Amazonas weiter anfeuern, weil damit mehr Fleisch und mehr Ethanol importiert würden. So werden die Bemühungen um die Eindämmung des Klimawandels und das Pariser Klimaabkommen untergraben.
Ein Beitrag aus unserer Mitgliederzeitschrift zum Thema Solidarität während der Conrona Pandemie: Grüne Blätter 2/2020: Wir halten zusammen – auch mit Abstand