Wenn die grün-roten Koalitionsverhandlungen in Baden-Württemberg Erfolg haben, wird Winfried Kretschmann, 62, der erste grüne Ministerpräsident der Republik. Am 12. Mai könnte der Landtag den Biologielehrer aus Sigmaringen wählen.
Interview mit Heribert Prant und Roman Deininger in der Süddeutschen Zeitung
SZ: Herr Kretschmann, August der Starke hat im 18. Jahrhundert Dresden umgewühlt und neu gebaut. Das Volk war aufgebracht. Hätte man damals den Bürgerentscheid gekannt, würde Dresden nicht so ausschauen, wie es ausschaut. Können Sie sich vorstellen, dass manche Politiker sich manchmal nach vorplebiszitären Zeiten sehnen?
Winfried Kretschmann: Ich auf jeden Fall nicht. Was mich fasziniert an der Demokratie, ist ihr Vereinbarungscharakter. Es gibt ein sehr schönes Büchlein von Dolf Sternberger, „Herrschaft und Vereinbarung“, in dem der „Leviathan“ von Hobbes und der „Rütlischwur“ dargestellt sind. Das sind schöne Bilder, die mich geprägt haben. Der Charme der Demokratie besteht darin, dass wir uns vereinbaren, dass wir uns heranpirschen an das Ideal der Selbstverwaltung und uns entfernen von den Herrschaftsgedanken.
SZ: Es gibt Dinge, die keiner will, und andere Dinge, die alle wollen. Diese Schwierigkeiten der neuen Bürgerbeteiligung soll die Politik lustvoll genießen?
Kretschmann: Mit der Lust in der Politik habe ich es nicht so. Bei der Politik fällt mir eher Kants Wort ein: „Pflicht, wunderbarer Gedanke.“ Politik hat es mit der Verschiedenheit von Menschen zu tun, und nur in diesem Grundgedanken reizt mich Politik überhaupt: Dass wir alle unterschiedlich auf die Welt kommen und kein Mensch vor und nach uns genauso ist wie wir. Das ist die wirkliche Aufgabe der Politik: Das alles zusammenzuhalten, so dass wir uns nicht irgendwann den Schädel einschlagen. Dass wir nicht versuchen, uns einander eine Verfassung aufzuzwingen. Zivilisierter Streit, das ist das Salz in der Demokratie.
SZ: Aber dieses Salz hat gewisse Strukturen. Der große Verfassungsrichter Gerhard Leibholz hat gesagt, der Volkswille könne im modernen Parteienstaat nur in den Parteien zum Ausdruck kommen. Ihr Konzept scheint ganz anders zu sein.
Kretschmann: Ja und nein. Ich sage immer: Hast Du ein Problem, schau in die Verfassung. Die Verfassung begrenzt eigentlich den Einfluss der Parteien auf die politische Willensbildung. Aber bisher hat die Bürgerschaft nur Trampelpfade in die Parlamente. Die Lobbyisten haben breite Straßen. Wenn wir wirklich mehr direkte Demokratie wollen, müssen wir auch bereit sein, in Frage zu stellen, was wir als Parteien in unsere Programme schreiben. Bei direkter Demokratie kann leicht eine Idee am Bürgerwillen zerschellen, wir haben das in Hamburg mit der Bildungsreform erlebt. Da müssen die Parteien sich zurückzunehmen lernen.
SZ: Wozu sind die Parteien noch da?
Kretschmann: Die großen Grundlinien, die können nur Parteien formulieren. Demokratie heißt ja auch Gemeinschaft der Gemeinschaften, und ohne Parteien würde das alles doch gänzlich unübersichtlich. In Baden-Württemberg wollen wir einen Schritt zur Bürgergesellschaft, aber nicht den größten Debattierclub Deutschlands gründen.
SZ: Franz Josef Strauß hat einst gesagt: Vox populi, vox Rindvieh. Was würden Sie ihm antworten?
Kretschmann: Den Spruch kenne ich auch von meinem Vater. Man muss die gute Mitte finden zwischen „Vox populi, vox dei“ und „Vox populi, vox Rindvieh“. Das Volk in seiner Mehrheit ist nicht dümmer oder klüger als eine Parlamentsmehrheit. Auch Volksentscheide können große Irrtümer bringen, zum Beispiel das Minarettverbot in der Schweiz. Aber es gibt einfach keine guten Gründe, dem Volk diese Entscheidung zu verwehren. Die Gefahr der Demagogie und des Populismus sehe ich, die existiert in der repräsentativen Demokratie auch. Der Verletzlichkeit der Demokratie können wir nur durch unser Engagement für das Recht und unsere Grundwerte begegnen.
SZ: Sie haben keine Angst vor dem Bürger? Der abgewählte Ministerpräsident Stefan Mappus hat gesagt, die Grünen seien immer da, wo es warm rauskommt. Was, wenn es plötzlich kalt rauskommt?
Kretschmann: Davor habe ich keine Angst, ich weiß, dass das so sein kann. Man muss sich radikal von dem Gedanken befreien, dass dieser kalte Wind immer nur die anderen trifft und nie einen selbst. Irgendwann bläst jedem der Wind ins Gesicht, und dann muss man gucken, dass man stehen bleibt.
SZ: Die modernen Bürgerbewegungen lassen im Umgang oft den Anstand vermissen. Macht Ihnen Sorge, wie sich der Protest politikerfeindlich auflädt?
Kretschmann: Es macht mir Sorge. Auch die Bürgerschaft hat eine Bringschuld, und die heißt: zivilisierter Streit. Wir erleben in solchen Bewegungen, dass sich Teile fanatisieren. Gerade deshalb müssen wir breit akzeptierte Formen finden, wie die Bürgergesellschaft den Weg in die Institutionen finden kann. Wir können sicher nicht dauernd Beschlüsse umstoßen, die wir demokratisch gefasst haben. Stuttgart 21 war und ist eine Ausnahmesituation. Deswegen brauchen wir neue demokratische Formate für die Bürgergesellschaft.
SZ: Die Schlichtung bei Stuttgart 21 war eines dieser neuen Formate. Ist die Zeit der Schlichtung schon vorbei oder kommt sie erst richtig?
Kretschmann: Die kommt. Aber wir müssen sie in Zukunft vor und in den Entscheidungsprozessen implementieren, und nicht hinterher wie bei Stuttgart 21.
SZ: Das heißt, Sie machen Heiner Geißler zum Minister für Sonderaufgaben?
Kretschmann: Das wäre nicht die schlechteste Idee.
SZ: Früher hieß es, Ruhe sei die erste Bürgerpflicht. Muss man das jetzt umdrehen: Unruhe ist die erste Bürgerpflicht?
Kretschmann: Das ginge ein Stück zu weit. Ich finde den Perikles-Satz treffender: „Nur bei uns ist ein stiller Bürger kein guter Bürger.“ Ein Problem sehe ich darin, dass sich die moderne Bürgerschaft eher punktuell und temporär engagiert. In Parteien, in Vereinen, in Kirchen und Gewerkschaften dagegen gibt es noch dieses lebenslange Engagement – auch diese Treue brauchen wir, diese Beständigkeit. Wir Grüne haben das gezeigt in dreißig Jahren Opposition in Baden-Württemberg, wir haben unsere Kernthesen durchgetragen bis heute.
SZ: Mehr Volksbefragung: Sie wollen aus Baden-Württemberg so etwas wie eine zweite Schweiz machen?
Kretschmann: Wir wollen die repräsentative Demokratie durch mehr direkte ergänzen. Dazu müssten wir die CDU gewinnen, denn wir bräuchten verfassungsändernde Mehrheiten. Das dürfte schwer werden. Was kann ich also bewirken, was dürfen die Menschen von mir erwarten? Dass sich vor den rechtlichen Normen die politische Kultur wandelt: offen sein für Alternativen.
SZ: Was ist, wenn in eineinhalb Jahren der kalte Wind bläst? Wenn Ihr Elan kurz vor der Bundestagswahl zusammenfällt?
Kretschmann: Wenn sie schon so pessimistisch fragen: Jeder erhabene Gedanke kann sich an der Wirklichkeit blamieren. Man muss immer mit dem Scheitern rechnen, das gehört auch zu meiner Grundausstattung als Christ: Ich weiß, ich kann etwas bewirken in der Welt, aber ich habe nicht alles in der Hand. Aber was man machen kann: Mit Festigkeit an den eigenen Werten festhalten. Wir haben einen großen Vertrauensvorschuss bekommen vom Wähler. Dieses Vertrauen müssen wir uns verdienen. Wie schwer das in der Praxis ist, sehen wir an Stuttgart 21. Wir kommen aus der Protestbewegung, es ist unser Anspruch, dass wir die Brücken bauen aus dem Protest heraus, hinein in die Institutionen. Das ist unsere, das ist meine eigentliche Herausforderung.
SZ: Mit dem Scheitern rechnen: Auch in den Koalitionsverhandlungen?
Kretschmann: Nein, die werden wir nicht scheitern lassen. Das wäre verantwortungslos. Wir sind für einen Politikwechsel gewählt worden.
SZ: Aber Sie könnten später stolpern, falls Sie als grüner Ministerpräsident Stuttgart 21 bauen müssen.
Kretschmann: Stuttgart 21 ist der große Stolperstein dieser Koalition. Wir haben höchst konträre Positionen bei einem sehr wichtigen Thema, wir sind dagegen, die SPD ist dafür. Ich vertraue da auf die Dynamik der Situation. Ich bin überzeugt, dass der Stresstest ergeben wird, dass das Projekt nicht funktionabel bzw. zu teuer ist und nicht effizient.
SZ: Die Grünen tun einiges dafür, eine solche Dynamik zu befördern. Im Wahlkampf haben sie eine Volksabstimmung versprochen, jetzt denken sie wegen des hohen Quorums an eine informelle Volksbefragung. Ist das noch glaubwürdig?
Kretschmann: Nüchtern betrachtet ist dieses Quorum nicht zu schaffen. Es ist grundsätzlich nicht fair, deswegen gab es in Baden-Württemberg noch nie eine Volksabstimmung.
SZ: Sie sagten vorher: Hast Du ein Problem, schau in die Verfassung! Wenn Sie das im Wahlkampf gemacht hätten, müssten Sie jetzt nicht so rumeiern.
Kretschmann: SPD und wir haben vor der Wahl versucht, das Quorum zu senken. Unser Gesetzentwurf ist an der CDU gescheitert. Jetzt befinden wir uns in einem Dilemma: Wir haben die Volksabstimmung klar angekündigt. Gerade die SPD hat den Befriedungscharakter einer Volksabstimmung betont. Aber wenn wir jetzt eine Mehrheit gegen den Bahnhof bekommen, aber dieses Nein wegen des hohen Quorums nicht gilt – dann wird doch von Befriedung keine Rede sein. Aber ich streite nicht ab, dass wir in diesen Fragen nicht klar genug waren und vor Monaten schon einen Fehler gemacht haben.
SZ: Merken Sie schon, dass Regieren schwerer ist als Opposition machen?
Kretschmann: Das war mir voll bewusst. Ich habe ja schon mal mitregiert, vor Jahren als Mitarbeiter von Joschka Fischer im hessischen Umweltministerium. Aber wir wollen kraftvoll gestalten, investieren in die Schulen, in die frühkindliche Bildung und die Universitäten.
SZ: Das hat Hannelore Kraft mit ihrer rot-grünen Regierung in Nordrhein-Westfalen auch getan. Dort hieß es, man mache intelligente Schulden. Aber da hat das Landesverfassungsgericht rebelliert.
Kretschmann: Wir müssen investieren, gerade im Bildungsbereich. Aber wir werden trotzdem auf einem Pfad bis 2020 zur Nullverschuldung kommen, das schreibt die Verfassung vor. Von dem Begriff „intelligente Schulden“ halte ich aber nichts. Die Schulden haben die dumme Eigenschaft, dass man ihnen später nicht ansieht, aus welchem Grund sie gemacht wurden, sie sind einfach nur da. Haushaltsdisziplin ist nicht nur von der Sache her geboten. Wir müssen den soliden Menschen in diesem Land auch zeigen, dass wir besser mit Geld umgehen können als die Schwarzen.
SZ: Die Republik wird auf den Umgang des ersten grünen Ministerpräsidenten mit der Wirtschaft schauen. Welches Unternehmen besuchen Sie als erstes?
Kretschmann: Ich besuche besonders gerne unsere Betriebe im Maschinen-, Anlagen- und Fahrzeugbau. Die haben sich schon auf einen grünen Weg gemacht, ressourcen- und energiesparende Produktlinien zu entwickeln. Nur mit grünen Produktlinien kann man in Zukunft erfolgreich sein.
SZ: Wo ist denn bei Daimler die grüne Produktlinie?
Kretschmann: Nun, sie strengen sich ja jetzt an, Autos zu entwickeln, die weg von ihren Spritfresser-Karossen gehen. Wo, wenn nicht hier im reichen Hochtechnologieland Baden-Württemberg sollen denn grüne Produkte entwickelt werden? Wir wollen der Pfadfinder sein, der die Wirtschaft in die richtige Richtung führt.
SZ: Können die Grünen die Nachfolge der CDU antreten als Volkspartei?
Kretschmann: Die Wähler sind heute schleckiger, sie legen mit der Wahl keine Treueschwüre mehr an. Aber der ökologische Gedanke trägt sich durch, in vielen Lebensbereichen und Schichten. Wir Grüne können noch breiter werden. Außerdem nimmt der Akademisierungsgrad zu, insofern haben wir gute Voraussetzungen. Andererseits werden wir immer ein Problem haben, eine Massenpartei zu werden, weil wir ja die Partei des Rockes sind, der langen Linien und langen Horizonte. Und man weiß eben, dass dem Menschen das Hemd näher ist als der Rock.
SZ: Bei der FDP war die Stunde des Triumphes bei der Bundestagswahl zugleich der Beginn des Niedergangs. Könnte das bei den Grünen auch so sein?
Kretschmann: Das glaube ich nicht. Der Gedanke des Ökologischen ist sehr stabil und tragend, wir haben ihn von der reinen Umweltfrage aus erweitert. Die FDP dagegen hat den Gedanken des Liberalismus auf die Steuerfrage schrumpfen lassen. Aber ich weiß, dass die Erwartungen an uns riesig sind. Und ich weiß auch, dass wir nicht alle Erwartungen erfüllen können. Auch in der neuen Bürgergesellschaft müssen die Bürger und die Institutionen im Gleichgewicht bleiben. Das kann leicht kippen. Das können wir nur verhindern, indem wir unseren Maßstab offen legen: Dass wir etwa die örtlichen Einwände gegen ein Windrad ernst nehmen, dass wir aber auch ans große Ganze denken müssen, an die Energiewende.
SZ: Sie sagen dem grünen Kreisvorsitzenden, der gegen das Windrad ist: Das Windrad wird gebaut.
Kretschmann: Politik ist dazu da, schwierige Probleme zu lösen, die leichten lösen auch ohne sie. Wir Grüne müssen die Partei für das Ganze sein. Der Interessenausgleich gehört zwar zur Demokratie. Aber wenn er sich nicht an der regulativen Idee des Gemeinwohl spiegelt, sind große und notwendige Reformvorhaben wie die Energiewende nicht möglich.
SZ: Sie haben lange auf eine schwarz-grüne Regierung hingearbeitet, vom „gelobten Land“ haben sie gesprochen. Was ist denn dann bitte Grün-Rot?
Kretschmann: Mit dem „gelobten Land“ war die Regierung gemeint, eine Machtperspektive ohne CDU war bis jetzt nicht realistisch. Die inhaltliche Idee war, mit einer wirtschaftsnahen Partei den ökologischen Gedanken in die Wirtschaft zu tragen. Davon hat sich aber die CDU mit dem historischen Fehler, die Laufzeit der Atomkraftwerke zu verlängern, verabschiedet.
SZ: Die CDU ist dabei, diesen Fehler zu korrigieren. Sie reinigt sich im Fegefeuer von ihren Sünden, um sich für den Himmel mit den Grünen zu qualifizieren.
Kretschmann: Oppositionsbänke sind hart und regen zum Denken an, da kommt man auf gute Ideen. Diese Erfahrung haben wir Grüne dreißig Jahre lang gemacht, jetzt können wir sie umsetzen. Jetzt darf eben auch die CDU mal wieder denken und neue Ideen entwickeln. Das ist doch eine echte Win-Win-Situation für beide Seiten.