Chris Kühn ist im gleichen Alter wie seine Partei: 30 Jahre. Seit sieben Monaten bildet der Tübinger mit der Freiburgerin Silke Krebs die Doppelspitze der Südwest-Grünen. Er gilt als kommender Mann und Hoffnungsträger.
Von Renate Angstmann-Koch
Chris Kühn ist kein Schnellredner. Keiner, der sich ins Rampenlicht drängt und drauflos plappert. Er ist ein bedächtiger Typ, hört zu, denkt nach, analysiert. Er begreift Politik als langfristiges Projekt und als Geschäft, das ein hohes Maß an Professionalität verlangt. Ihn wundert es nicht, dass heute der Weg der meisten Nachwuchs-Politiker von der Uni über die Mitarbeit bei einem Abgeordneten ins Parlament führt: „Das muss man lernen, das kann man nicht von außen.“
Der 30-Jährige selbst lernte das Geschäft im Wahlkreisbüro des Bundestagsabgeordneten Winfried Hermann. Doch nur kühl-distanziert ist Kühns Blick auf die politischen Zusammenhänge nicht. Er war Ersatzdelegierter der Landes-Grünen bei der Bundespräsidentenwahl. Zwar kam er am Mittwoch nicht zum Zug, doch er war die ganze Zeit dabei im Plenarsaal des Bundestags, der sonst nur einem kleinen Personenkreis zugänglich ist. „Das ist schon sehr bewegend“, findet er. Schon allein wegen des Bewusstseins, „dass der Blick der Republik an diesem Tag auf diesem Ort liegt“.
Joachim Gauck, der Kandidat von SPD und Grünen, beeindruckte ihn als Person und durch seinen Begriff von Freiheit, seine Wortwahl, seine Forderung nach mehr demokratischer Teilhabe. Neun Stunden lang herrschte am Wahltag „eine gewisse Spannung“. Nach dem ersten Wahlgang schien alles offen zu sein.
Was da entstand, die Bürgerbewegung für Gauck – das tut der Demokratie gut“, findet Kühn. Das Regierungslager habe „eine Riesenschlappe“ kassiert. Doch auch die Opposition bleib uneins. „Teile der Linken hatten Interesse an einem rot-rot-grünen Signal, setzten sich aber nicht durch“, bedauert er. Es bedürfe wohl noch einiger Jahre, „bis es ein normales Verhältnis zur Linkspartei gibt. Das muss nach und nach aufgebaut werden, es ist offenbar belastet von beiden Seiten“.
Doch es gebe auch Zeichen der Annäherung. Da die klassischen Blöcke kaum mehr Machtoptionen hätten, müssen sich die Parteien auf neue Konstellationen zubewegen, fordert Kühn. Er begrüßt das Experiment einer Minderheitenregierung in Nordrhein-Westfalen mit im Idealfall wechselnden Mehrheiten. „Einen Versuch ist es auf jeden Fall wert“, findet er.
Vor einer Woche beschlossen die Grünen, in Baden-Württemberg mit Fraktions-Chef Winfried Kretschmann und einem Dreier-Team von Fachpolitikern an der Spitze in den Landtags-Wahlkampf zu ziehen. „Ziel muss sein, die Mehrheit von Schwarz-Gelb zu brechen“, sagt der Landes-Chef. Die Südwest-Grünen „werden keine Option nach der Wahl ausschließen. Wir wollen die Regierung und die anderen herausfordern.“ Ein Fünf-Parteien-System gibt es aus Sicht des Politologen de facto auch im Land. Schließlich sei die Linke in vielen Kommunalparlamenten und mit Bundestagsabgeordneten vertreten. Nur noch nicht im Landtag.
Bei CDU und FDP beobachtet Kühn hohe Nervosität. Schwarz-Grün schließt er künftig zwar ebenso wenig aus wie eine andere Konstellation. Doch mit Stuttgart 21, der Sicht der Atomkraft, im Bereich Bürgerrechte und innere Sicherheit oder in der Bildungspolitik gebe es viele Knackpunkte: „Wir haben in allen Themengebieten massive Differenzen zu dieser Landesregierung, die eine desaströse Politik macht und bei der unklar bleibt, in welche Richtung sie will.“
Die Grünen fordern mehr Gestaltungsmöglichkeiten im Schulsystem vor Ort, überdies Bürger- und Volksentscheide. Zwar sei die CDU „tief gespalten“. Es gebe auch Kräfte, die auf erneuerbare Energien setzten und ein modernes Familienbild pflegten. Doch sei die CDU „immer stark auf den Ministerpräsidenten fokussiert“, sagt Kühn. Mit dem Konservativen Stefan Mappus an der Spitze hielten moderatere Kräfte in der CDU still.
„Uns ist bewusst, dass wir für stärkere Grüne kämpfen müssen, um grüne Politik umzusetzen“, sagt Kühn. Obwohl seine Partei nicht überall auf aussichtsreiche Nachwuchskräfte zählen kann, will er selbst nicht für den Landtag kandidieren, schon wegen der Trennung von Amt und Mandat nicht. „Ich respektiere die Regeln meiner Partei, und meine Aufgabe macht mir Spaß.“ Es stehe ihm auch nicht zu, sich in die Kandidatenaufstellung der Kreisverbände einzumischen, die etwa in Tübingen noch offen ist. Die Grünen kämpften für ein neues Wahlrecht mit zwei Stimmen und Landeslisten. Das jetzige benachteilige kleine Parteien. Überdies zwinge es den Blick der Abgeordneten zu stark auf den eigenen Wahlkreis statt aufs ganze Land.
Chris Kühn wählte einst neben Soziologie Politik als Studienfach, weil er mehr über Strukturen und Hintergründe wissen wollte. Seine Orientierung zu den Grünen geht auf seine Eltern zurück, die sich nach der Reaktorkatastrophe von Tschernobyl stark mit ökologischen Fragen beschäftigten. Der Sohn engagierte sich in der Naturschutzjugend, wurde Klassensprecher, ging in Göppingen in den Jugendgemeinderat. Durch den Zivildienst kam er zur katholischen Jugendarbeit. Ein Arbeitsamts-Test nach dem Abitur empfahl ihm, Pfarrer zu werden. Doch daraus wurde nichts. „Ich habe keine Distanz zur Religion, aber nicht so, dass ich das Bedürfnis hätte, sonntags in der Kirche zu sein“, sagt Kühn. Stattdessen ist er nun Vollzeitpolitiker mit einer Zweidrittelstelle als Grünen-Landes-Chef.
Quelle: Schwäbisches Tagblatt