Herr Kretschmann, Sie haben lange Jahre auf eine schwarz-grüne Koalition im Land hingearbeitet. Jetzt reden Sie von einer Liebesheirat mit der SPD. Was ist da passiert?
Das hat sich im Wahlkampf und in der Zeit unmittelbar davor so ergeben.
Das klingt nach Liebe auf den ersten Blick, was verwundert, denn in der gemeinsamen Oppositionszeit haben die Grünen recht geringschätzig auf die in ihren Augen langweiligen Sozialdemokraten herabgeschaut.
Dann war es wohl Liebe auf den zweiten Blick, die gibt’s ja auch.
Was erscheint Ihnen jetzt plötzlich attraktiv an der SPD?
Sie hat sich in zentralen Bereichen auf uns zubewegt, vor allem in der Bildungspolitik. Außerdem verstehe ich mich mit dem SPD-Spitzenkandidaten Nils Schmid persönlich und politisch sehr gut.
Wenn man Sie beide so sieht, dann wirkt das ein bisschen wie der Patriarch mit seinem Neffen, der aus Übersee angereist ist.
Da spielt der Altersunterschied eine Rolle. Die äußere Erscheinung unterscheidet sich, die innere Übereinstimmung ist hoch.
Wer ist Koch in der Koalition, und wer ist Kellner?
Diese Unterscheidung gibt es bei uns nicht. Ich habe diese Formulierung von Gerhard Schröder schon immer als unglücklich empfunden. Mit so einer Haltung kann man kein Land gemeinsam regieren, schon gar nicht, wenn zuvor eine andere Partei fast 58 Jahre am Ruder war. Außerdem sind wir gleich stark, was das Wahlergebnis angeht. Wir werden eine Koalition auf Augenhöhe bilden. Das halte ich für das Erfolgsrezept.
Rechnen Sie bei der angestrebten Wahl zum Ministerpräsidenten mit allen Stimmen aus der SPD-Fraktion?
Ich rechne damit. Das Landtagswahlergebnis bedeutet für uns nicht nur eine enorme Herausforderung, sondern auch eine große Verantwortung. Der Flurschaden für beide Parteien wäre unermesslich, wenn die Wahl schlecht liefe. Ich gehe davon aus, dass das jeder weiß.
Es gibt ein wesentliches Thema, das Grüne und SPD trennt: Stuttgart 21. Werden Sie Ihre Zusage einhalten und eine Volksabstimmung ansetzen?
Wir werden eine Volksabstimmung ansetzen. Es sei denn, es treten völlig neue Sachverhalte auf.
Was könnte das sein?
Zum Beispiel das, was in den Zeitungen spekuliert wird: dass die Bahn selbst das Projekt infrage stellen könnte. Das wäre eine neue Situation. Aber jetzt kommt erst einmal der Stresstest, und dann wird weiter entschieden.
Täuscht der Eindruck, dass Sie hoffen, am Ende des Stresstests werde die Kostenprognose für den Tiefbahnhof über der Schwelle von 4,5 Milliarden Euro liegen?
Es geht nicht um Hoffnung, das haben wir immer schon vorausgesagt.
Dann wird die Volksabstimmung obsolet?
Die Schmerzgrenze von 4,5 Milliarden Euro wurde von Bahn-Chef Rüdiger Grube gezogen, nicht von uns. Also muss dann die Bahn sagen, was sie will. Aber das Versprechen der Volksabstimmung gilt grundsätzlich.
Wie muss man sich das vorstellen? Grüne und SPD machen Wahlkampf gegeneinander? Dann verliert am Ende in jedem Fall ein Teil der Koalition.
Wenn wir direktdemokratische Entscheidungen einführen, dann müssen wir uns daran gewöhnen, dass dies Ergebnisse hervorbringt, die uns nicht gefallen. Das ist ganz normal. In Hamburg – bei der Abstimmung über die Schulen – haben alle Bürgerschaftsparteien eine Niederlage erlitten, nicht nur ein kleiner Teil.
In Hamburg war der Volksentscheid der Anfang vom Ende der schwarz-grünen Koalition.
Das sehe ich nicht so. Die Koalition scheiterte daran, dass innerhalb kürzester Zeit CDU-Senatoren zurücktreten mussten. Aber man sieht daran, dass es in einer repräsentativ geprägten Demokratie gewöhnungsbedürftig ist, dass das Volk andere Beschlüsse fällt als das Parlament.
Wenn der Tiefbahnhof scheitert, bedeutet das dann auch das Ende der Neubaustrecke nach Ulm?
Das Thema Stuttgart 21 und die Neubaustrecke nehmen in den Koalitionsverhandlungen eine wichtige Rolle ein. Dem will ich nicht vorgreifen.
Bleiben wir doch bei der Infrastruktur. Sie wollen Stuttgart 21 verhindern, und sie wollen kein weiteres Geld in den Ausbau des Straßennetzes stecken. Für den Wirtschaftsstandort Baden-
Württemberg wird die Verkehrsinfrastruktur gemeinhin als besonders wichtig angesehen. Welche Verkehrswege wollen Sie denn ausbauen?
Auch dies müssen wir verhandeln, sie wissen ja, dass die SPD im Straßenbau andere Positionen vertritt als wir. Grundsätzlich aber gilt: es gibt eine Priorität im Erhalt der Straßen. Schon dafür reichen die von der alten Landesregierung eingeplanten Mittel nicht aus. Darüber hinaus müssen wir uns aber andere Konzepte für die Mobilität überlegen. Den Staus Straßen hinterherzubauen, ist weder ökologisch noch bezahlbar.
Baden-Württemberg ist einer der weltweit bedeutendsten Industriestandorte, der als solcher auf preiswerten Strom angewiesen ist. Inwieweit prägt das Ihre Überlegungen in der Energiepolitik?
Die Frage, wie wir unser Wirtschaftsmodell mit dem Erhalt unserer natürlichen Lebensgrundlage in Übereinstimmung bringen, ist die große Herausforderung des 21. Jahrhunderts. Dieser Frage müssen sich alle stellen, auch die Automobilindustrie und auch die Energiewirtschaft. Wir werden darauf achten, dass die Maßnahmen, die wir ergreifen – etwa beim Ausstieg aus der Atomenergie -, keine wirtschaftlich nachteiligen Folgen für das Land haben. Ich sehe diese Gefahr auch überhaupt nicht.
Aber die Energiepreise werden doch sicherlich steigen.
Die Energiepreise steigen doch schon seit langem, auch ohne dass wir an der Regierung sind. Die Energiepreise werden steigen, aber bescheiden – und nicht wegen des Atomausstiegs. Wer anderes behauptet, liegt falsch.
Die öffentlichen Äußerungen aus der Wirtschaft zum Wahlergebnis waren moderat, aber es gibt doch Fragen zur Zukunft des Wirtschaftsstandorts. Wie begegnen Sie diesen Sorgen?
Hannah Arendt hat mal richtig gesagt, Demokratie habe etwas mit der Zerstreuung von Vorurteilen zu tun. Das werden wir jetzt angehen. Es werden immer wieder alte Feindbilder belebt, die mit der Realität nichts zu tun haben. Wir wollen, dass Baden-Württemberg ein wirtschaftsstarkes Land bleibt. Das ist die Herausforderung, der wir uns stellen: zu zeigen, dass Wohlstand und Bewahrung der Schöpfung keine Gegensätze sind, sondern beides gemeinsam zu erreichen ist. Wer soll es denn schaffen, die Revolution im Ressourcen- und Energieverbrauch umzusetzen, wenn nicht wir in Baden-Württemberg mit unserer erstklassigen Hochschul- und Forschungslandschaft?
Haben Sie gute Kontakte zu den großen Unternehmen im Land?
Wir haben vor allem gute und gewachsene Kontakte zur mittelständischen Wirtschaft. Ich besuche ganz regelmäßig unsere mittelständischen Betriebe, vor allem in den Kernbranchen Maschinen- und Anlagenbau. Das mache ich gern, das sind gewissermaßen meine Lieblingsfirmen, weil mir da praktisch vor Augen geführt wird, wie kreativ der Mensch sein kann und welche Innovationen er zustande bringt.
Was wird denn jetzt aus Philippsburg I und den anderen Atommeilern?
Da liegt der Ball jetzt erst einmal beim Bundestag und bei der Bundesregierung. Ich kann mir schwer vorstellen, dass nach der Wahl in Baden-Württemberg und Rheinland-Pfalz die Atommeiler wieder ans Netz gehen.
Wie werden Sie die erneuerbaren Energien in Baden-Württemberg ausbauen? Droht demnächst die einst von Erwin Teufel bekämpfte Verspargelung der Landschaft und auf jedem Hügel ein Windrad? Wie gehen Sie das strategisch an und welche Rolle spielt der Stromkonzern EnBW dabei?
Das sehen wir, wenn wir Einblick in dieses Unternehmen haben. Bisher kennen wir es nur von außen. Entscheidend ist: es fehlt nicht an Investoren, sondern es mangelt an Vorgaben, die Windkraft auszubauen. Das werden wir ändern. Ich hoffe, dass wir einen Boom erleben, aber eine Verspargelung der Landschaft wird es nicht geben.
Sie laufen als Inbegriff finanzpolitischer Seriosität durch die Landschaft. In den Wahlprogrammen finden sich jedoch kostspielige Projekte vor allem in der Bildungspolitik. Der scheidende Ministerpräsident hatte dagegen die Nettonullverschuldung für 2014 angekündigt. Können die Schwarzen doch besser mit dem Geld umgehen?
Die Schwarzen können vor allem besser mit Versprechungen zum Geld umgehen, aber nicht mit dem Geld. Wann hat die CDU denn das Versprechen auf Nullverschuldung eingelöst? Das hat sie nur in einer Situation geschafft, als ein riesiger Steuerregen auf das Land niederging. Günther Oettinger hatte dieses Glück. Das war es dann aber auch. Ich strebe an, bis zum Jahr 2020 einen strukturell schuldenfreien Haushalt zu erreichen. Das ist höchst ambitioniert, denn die Regierung Mappus hinterlässt in der mittelfristigen Finanzplanung Deckungslücken in Höhe von insgesamt acht Milliarden Euro.
Die Abschaffung der Studiengebühren wird das Land 135 Millionen Euro kosten. Das geht doch wohl nur durch neue Schulden.
Das werden wir sehen, wie das finanziert wird. Wir haben vor, dass Land in die Nullverschuldung zu führen, das wird ein ganz klares Ergebnis dieser Koalitionsverhandlungen sein.
Stehen wir mit Blick auf die Gemeinschaftsschule vor einer Bildungsrevolution?
Wir stehen vor Bildungsreformen.
Bei der frühkindlichen Bildung haben die bisherigen Oppositionsfraktionen die Kommunen mit Versprechungen gehätschelt. Können Städte und Gemeinden darauf hoffen, dass sich die neue Regierung stärker engagieren wird als die alte?
Davon gehe ich aus.
Stellen Sie bestimmte Wahlaussagen unter Finanzierungsvorbehalt?
Es ist völlig klar, dass wir alles nur in dem Maße machen können, wie wir das gegenfinanziert bekommen. Nach dem Kauf der EnBW-Aktien durch die Regierung Mappus stehen wir zudem vor großen Unwägbarkeiten, was finanziell auf uns zukommt. Wir werden unsere Projekte nach den finanziellen Möglichkeiten, die wir haben, schrittweise umsetzen. Anders wird das nicht gehen.
Das Interview führten Joachim Dorfs und Reiner Ruf
Quelle: Stuttgarter Zeitung