„Wir wollen die Menschen befähigen, mit den Umbrüchen der Zeit umzugehen. Und wir wollen die Abwehrkräfte unserer Gesellschaft gegen Polarisierung und Spaltung stärken“, bringt Ministerpräsident Winfried Kretschmann im Interview seine Politik für den Zusammenhalt auf den Punkt.
Den Zusammenhalt im Land stärken – das hat sich die Landesregierung zur Aufgabe gemacht. Warum diese Schwerpunktsetzung?
Baden-Württemberg steht erstmal so gut da wie selten zuvor: Die Wirtschaft läuft, die Arbeitslosigkeit ist so gering wie seit über einem Vierteljahrhundert nicht mehr. Nirgendwo sonst in Deutschland sind so viele Menschen ehrenamtlich aktiv wie bei uns. Und wir leben in einer der sichersten Regionen der Welt. Aber natürlich ist auch Baden-Württemberg in einer Welt, die sich rasant verändert, keine Insel der Seligen. Auch bei uns beginnt der Zusammenhalt zu bröckeln.
Heute prasseln fundamentale Umbrüche auf uns herein. Von der Flüchtlingskrise über die Globalisierung bis zum Klimawandel, vom islamistischen Terrorismus über die digitale Revolution bis zur gesellschaftlichen Modernisierung. Das bleibt nicht ohne Folgen. Manche Menschen sind verunsichert. Andere fühlen sich abgehängt. Der Ton der öffentlichen Debatte wird rauer. Die Sehnsucht nach Halt und Orientierung wächst. Und so fragen sich auch bei uns manche: Worauf kann ich mich noch verlassen?
Wie kann Zusammenhalt in einer vielfältigen und individualisierten Gesellschaft wie der unseren funktionieren?
Das ist eine gewaltige Herausforderung. Denn als Demokraten müssen wir hier fast etwas Paradoxes zustande bringen. Wir müssen nämlich Freiheit, Vielfalt und Zusammenhalt miteinander vereinbaren. Wir stehen einmal für die offene Gesellschaft, in der jeder und jede selbstbestimmt leben kann und anders sein darf als alle anderen. Zugleich wollen wir, dass diese Gesellschaft sich nicht atomisiert und die Menschen nicht einfach auseinanderlaufen, sondern zusammenstehen. Das ist das große Spannungsverhältnis, in dem wir uns befinden. Die große Aufgabe, die wir als Demokraten meistern müssen.
Die Populisten machen sich es da leicht. Auch die reden ja von Zusammenhalt. Aber was meinen sie damit? Sie propagieren eine völkische Gemeinschaft, zu der Menschen, die sie als „anders“ definieren, einfach nicht mehr dazugehören. Also zum Beispiel unsere Landtagspräsidentin Muhterem Aras. Weil ihre Vorfahren im Jahr 955 nicht auf dem Lechfeld gegen die Ungarn mitgekämpft haben, darum soll sie heute keine richtige Deutsche sein. Solche Sachen schreibt die AfD wirklich in ihre Pressemitteilungen rein. Völkische Gemeinschaft – lebt von Ausgrenzung, von einem „wir gegen die“, da bleibt kein Platz mehr bleibt für die vielfältige Gesellschaft und das selbstbestimmte Leben. Und genau das wollen wir nicht. Deshalb müssen die Frage nach dem Zusammenhalt sehr sorgfältig stellen und gut durchdachte Antworten geben.
Aber worauf kann man den Versuch, offene Gesellschaft und Zusammenhalt gleichzeitig zu bewahren, denn gründen? Den Leuten einfach befehlen: „seid gute Demokraten!“ und: „steht fest zusammen!“ – das reicht ja wohl nicht aus.
Eine gute Antwort für die offene Gesellschaft gibt der Republikanismus, der auf den Grundüberzeugungen eines freiheitlichen Denkens beruht, auf einer guten Ordnung der Dinge. Ein solcher Republikanismus stützt sich auf die demokratische Verfassung, in der wir unsere Grundrechte und Pflichten anerkennen. Und auf die Zivilgesellschaft, die societas, die Bürgerinnen und Bürgern des Staates.
„Staatsbürger sein, das hat mit republikanischen Tugenden zu tun, mit demokratischen Grundhaltungen, mit Engagement. Hier liegt die soziale Grundlage des Zusammenhalts – und nicht im Blut oder der Herkunft.“
Dann geht es wesentlich geht um das Sich-Einbringen, das gemeinsame tätige Handeln, aus dem nach Hannah Arendt ja die Macht erwächst, wirklich etwas zu bewegen. Es geht um die Probleme der Gegenwart, die man gemeinsam anpackt. Und es geht um die Zukunft, um das Ziel, zu dem man hin will. Aus all dem kann Zusammenhalt entstehen. Deswegen müssen wir an erster Stelle auch zeigen, dass wir die Welt mit all ihren Umbrüchen, Spaltungen und Zerwürfnissen aktiv gestalten und zu einem besseren Ort machen können. Dafür müssen wir realistische Wege aufzeigen und Zuversicht schaffen. Und gerade nicht Ängste schüren, wie die Populisten das tun.
Wir müssen zum Beispiel zeigen, dass wir die Klimakrise meistern können. So wie damals das FCKW-Problem, das wir ja auch weltweit gemeinsam gelöst haben. Wir müssen zeigen, dass wir die Digitalisierung menschlich gestalten können, auf einem guten europäischen Weg – ohne Monopole, die alles beherrschen, ohne dass wir gläserne Bürger werden oder aus Bequemlichkeit Selbstbestimmung an Maschinen und Algorithmen abtreten.
Was macht die Landesregierung konkret? Wie sieht Politik für den Zusammenhalt in Baden-Württemberg aus?
Natürlich kann Politik Zusammenhalt nicht einfach so von oben verordnen. Das ist klar. Sie kann aber beharrlich daran arbeiten. Und genau das tun wir. Meine Landesregierung hat deshalb die Stärkung des Zusammenhalts von Beginn an zu einem unserer Schwerpunkte gemacht. Und geht es dabei um zwei Dinge: Wir wollen die Menschen befähigen, mit den Umbrüchen umzugehen. Und wir wollen die Abwehrkräfte unserer Gesellschaft gegen Polarisierung und Spaltung stärken.
Uns geht es hier um das „Was“ und das „Wie“ der Politik. Beim „Wie“ geht es wesentlich um den Politikstil, den wir pflegen, um die Haltung, mit der wir an Probleme herangehen, die Art, wie wir gesellschaftliche Konflikte aufnehmen, abbilden und austragen. Deshalb habe ich im Land unsere Politik des Gehörtwerdens etabliert. Sie stärkt den Bürgergeist und den Gemeinschaftssinn.
Der Poltikstil zeigt sich in den Dutzenden von Beteiligungsverfahren, die wir in den letzten Jahren durchgeführt haben. Wir wollen Brücken bauen, auch zu Menschen, die sich unverstanden oder vernachlässigt fühlen. Deshalb beziehen wir nicht nur die „üblichen Verdächtigen“ ein, die vor Ort bekannten und engagierten Menschen. Sondern wir laden zufällig aus dem Melderegister ausgewählte Bürgerinnen und Bürger zu unseren Dialogen ein. Ich war selbst bei Nachbarschaftsgesprächen in Pforzheim dabei und habe gesehen, wie gut das Gespräch mit den sogenannten „Zufallsbürgern“ funktioniert. Die wissen nämlich oft sehr viel und können sich schnell in Dinge hineindenken. Ich bin fest überzeugt: Die Politik des Gehörtwerdens hilft, Heimat in der Demokratie zu schaffen. In diesem Sinne ist sie eine Politik der Beheimatung.
Aber es geht natürlich auch um das „Was“ – also um ganz konkrete politische Maßnahmen und Programme. Zusammenhalt ist für uns nicht nur eine Aufgabe des Sozialministeriums, sondern eine für die ganze Landesregierung. Da müssen alle ran – jeder an seiner Stelle. Denn auch die Risse in unserer Gesellschaft haben ja nicht nur den einen Grund. Es geht um kulturelle und soziale Fragen, um Fragen der Sicherheit und Gerechtigkeit, um Würde und Anerkennung.
1000
Integrationsmanager unterstützen Flüchtlinge, damit sie schnell auf eigenen Beinen stehen.Und entsprechend breit ist die Spannbreite unserer Aktivitäten: Das geht von der Qualitätsoffensive bei der Bildung und die Stärkung des Ehrenamts, bis zu einer Verfünffachung der Mittel für den Wohnungsbau und über 1.000 Integrationsmanager im ganzen Land, die Flüchtlinge unterstützen, damit sie schnell auf eigenen Beinen stehen. Oder von der größten Einstellungsoffensive in der Geschichte unserer Polizei und Rekordinvestitionen zur Stärkung des Ländlichen Raums bis zum Ethik-Unterricht ab der Unterstufe und unserer Quartiersstrategie für lebenswerte Nachbarschaften und Stadtviertel.
Aber auch innovationspolitische Aktivitäten wie der Strategiedialog Automobilwirtschaft und unsere Digitalisierungsstrategie sind Bausteine für den Zusammenhalt: Wir wollen die technologischen Disruptionen meistern, damit der Wirtschaftsstandort Baden-Württemberg auch noch in 10 oder 20 Jahren in der Champions League spielt.
Jetzt haben wir zudem noch ein eigenes Impulsprogramm für den Zusammenhalt beschlossen.
Wie sieht dieses Programm konkret aus?
„Das Programm orientiert sich weniger an Defiziten. Sondern wir setzen bewusst dort an, wo wir als Land schon stark sind: Beim Bürgersinn, beim ehrenamtlichen Engagement, da, wo Menschen einander begegnen und Dinge gemeinsam in die Hand nehmen.“
Ein Projekt nimmt etwa den ländlichen Raum in den Blick: Auf dem Land war das Gasthaus früher ja in vielen Dörfern der Mittelpunkt. Der Ort, wo man sich getroffen und ausgetauscht hat. Aber inzwischen machen viele Dorfgasthäuser und Läden dicht. Wir helfen nun, solche leerstehenden öffentlichen Orte wiederzubeleben. Denn: Zusammenhalt braucht konkrete Orte, an denen Menschen zusammenkommen und gemeinsam etwas auf die Beine stellen.
Ein anderes Projekt heißt „Dem Rechtsstaat ein Gesicht geben“. Wir erleben, dass das Vertrauen in den Rechtsstaat bröckelt und Menschen sich nicht mehr sicher fühlen, obwohl die Kriminalität so niedrig ist wie seit langem nicht mehr. Wir wollen das Vertrauen in den Rechtsstaat wieder stärken und Menschen mit Richtern oder Polizisten ins Gespräch bringen – und dafür auch Orte wie Theater, Museen und Kultureinrichtungen nutzen.
Ein weiteres Problemfeld ist die Verrohung der Kommunikation: Äußerungen, die man früher allenfalls am Stammtisch hörte, werden von vielen heute fast schon selbstverständlich bei Facebook oder Twitter gepostet. Hass und Hetze, Beleidigungen und Fake News nehmen zu. Mit Workshops und einer Kampagne wollen wir deshalb Kinder und Jugendliche gegen Hass und Hetze in Sozialen Netzwerken stärken und sie zu einer respektvollen Diskussionskultur ermutigen.
Das alles sind kleine Bausteine für den Zusammenhalt. Aber wir setzen sie gezielt. Und ich bin fest überzeugt, dass sie zusammen eine gute Wirkung entfalten.
Impulsprogramm für den gesellschaftlichen Zusammenhalt auf Baden-Württemberg.de