Es waren drei Jahrzehnte, in denen der Sigmaringer Lehrer solide und ohne großen Wellenschlag Politikkonzepte entwickelte und Landtagsdebatten führte. Seit einem knappen halben Jahr ist alles anders. Der Mann, der Deutschlands erster grüner Ministerpräsident werden könnte, erfährt eine nie gekannte Aufmerksamkeit. „Das kann ich kaum alles bewältigen“, sagt er über die Interviewanfragen, die aus ganz Deutschland, ja sogar aus den Nachbarländern bei ihm eingehen.
Viele Male ist der Chef der Grünen-Landtagsfraktion schon zum Redaktionsgespräch nach Konstanz gekommen. Anfang Januar 2011 ist der Blick auf den 62-Jährigen ein anderer als bei früheren Besuchen. Kann er auch Ministerpräsident? Nach Umfragen könnten die Grünen gemeinsam mit der SPD nach der Landtagswahl im März die schwarz-gelbe Regierung in Stuttgart ablösen. Bereitet sich Winfried Kretschmann schon auf den Ministerpräsidentenposten vor? „Nicht speziell“, sagt er lachend. Opposition sei Regierung im Wartestand. Das habe er immer so gesehen und auf konstruktive Oppositionsarbeit gesetzt. „Das ist die Grundlage.“
Dass die Führung einer Landesregierung etwas anderes ist als die einer kleinen Oppositionspartei, räumt er freimütig ein. Aber: „Nein, Angst habe ich keine. Respekt schon.“ Ohnehin will er gar nicht so intensiv über die MP-Frage reden. „Ich träume nicht davon“, sagt er und legt die Hände ruhig lächelnd auf die Tischplatte. Den Eindruck, den Grünen gehe es nur um Posten, will er gar nicht erst aufkommen lassen.
Der bekennende Katholik ist selbstbewusst, aber bescheiden. Als die ersten Weichen für diesen Wahlkampf gestellt wurden, war seine Partei nicht gerade euphorisch über den Schon-Wieder-Spitzenkandidaten. „Ich musste mir ja immer anhören, dass ich zu staatstragend bin“, erinnert sich der Mann mit dem Bürstenhaarschnitt. „Jetzt sind aber alle ganz froh, dass ich so bin“, schiebt er zufrieden nach.
Tatsächlich ist Kretschmann die Idealbesetzung, um für die Grünen Stimmenzuwächse weit ins bürgerliche Lager hinein möglich zu machen. Er kennt die Fakten und Debattenverläufe der Landespolitik aus dem Effeff. In der Schlichtungsrunde zu Stuttgart 21 war er als bedächtiger, aber sachkundig souveräner Argumentierer zu sehen. Selbst in den anderen Parteien wird man kaum jemanden finden, der dem Oberschwaben Glaubwürdigkeit abspricht. Das Thema, das die Grünen in den Umfragenhimmel hievte, passt zudem perfekt zu Kretschmanns schon seit Jahren formulierten Demokratie-Credo. „In 60 Jahren CDU-Regierung ist das Parlament ein reines Anhängsel der CDU geworden“, kritisiert er.
Gelte im Bundestag die Regel, kein Gesetz komme so heraus, wie es hereinkam, sei in Baden-Württemberg das Gegenteil der Fall. Hier verlasse jedes Gesetz den Landtag so, wie die Regierung es eingereicht hatte. „Das ist ein erschreckender Niedergang der ersten Gewalt im Staate“, regt sich der grüne Spitzenmann auf. „Das Parlament muss ein lebendiger Ort der Auseinandersetzung sein“, fordert er. Dass er dies nicht ist, sei der Keim für die Stuttgart-21-Proteste, wie das Land sie jetzt erlebt. Sein Ziel ist es, den Spagat zu schaffen, mit deutlich mehr Bürgerbeteiligung gestaltungsfähig zu bleiben.
Diese Position ist schwer angreifbar. Das spürt auch der politische Gegner. Stets parteiübergreifend geachtet, muss Winfried Kretschmann neuerdings mit scharfen Attacken leben. „Das ist schon gewöhnungsbedürftig“, gibt er zu. Wenn es um Machtverlust gehe, höre bei der CDU der Spaß auf. So nenne ihn der Ministerpräsident eine Schaufensterpuppe, hinter der „die Özdemirs der ganzen Welt“ stünden. „Das Verhältnis zur CDU ist total in den Keller gefahren“, sagt er stirnrunzelnd. Nach der letzten Wahl hatte er noch mit Günther Oettinger über ein schwarz-grünes Bündnis gesprochen. Auf Fragen, ob Gerüchte über angebliche gesundheitliche Einschränkungen gezielt lanciert werden, lässt sich Kretschmann nicht ein. Nur so viel: „Ich bin gesund und fit“.
Quelle: Südkurier