„Wir sehen weiterhin keinen triftigen Grund dafür, dass Stuttgart 21 jetzt gebaut werden soll“, sagt Winfried Kretschmann. „K21 ist die bessere Alternative.“ Der Stresstest, eine alte Forderung der S21-Gegner, müsse jetzt belegen, dass die anvisierte 30-prozentige Leistungssteigerung des Bahnhofsknotens Stuttgart mit der bisherigen Planung realisiert werden könne. Aber Winfried Kretschmann geht nicht davon aus, dass Stuttgart 21 diesen Stresstest bestehen wird.
Ihr wart im Oktober die ersten, die Heiner Geißler als Schlichter im Stuttgarter Bahnhofsstreit vorgeschlagen habt. Nehmen die Grünen den Schlichterspruch jetzt eigentlich an oder nicht?
Winfried Kretschmann: Wir sehen weiterhin keinen triftigen Grund dafür, dass Stuttgart 21 jetzt gebaut werden soll. K21 ist die bessere Alternative. Zentrale Empfehlungen von Heiner Geißler, wie die Nachbesserungen und der Stresstest, nehmen wir aber an, zum großen Teil sind diese ja aus unserer Kritik heraus entstanden. So sagt Geißler, für das Streckennetz seien „Verbesserungen vorzusehen“. Dazu gehört unter anderem die Ausweitung des Tiefbahnhofes um ein 9. und 10. Gleis, die Auflösung von einer Reihe von Engpässen in den Zufahrten durch die Verlegung weiterer Gleise sowie die Ausrüstung der Ferngleise mit zusätzlicher konventioneller Leittechnik. Welche dieser Verbesserungen tatsächlich vorgenommen werden müssen, macht der Schlichter abhängig vom Ergebnis eines sogenannten Stresstests.
Warum ist der Stresstest so wichtig?
Der Stresstest ist eine alte Forderung der S21-Gegner, gegen die sich die Bahn immer vehement gewehrt hat. Mit ihm muss die Bahn belegen, dass die anvisierte 30-prozentige Leistungssteigerung des Bahnhofsknotens Stuttgart mit der bisherigen Planung von S21 in der Spitzenzeit realisiert werden kann. Jetzt muss man aber wissen, dass die Bahn just an diesem Punkt in der Fachschlichtung vollkommen versagt hat. Zweimal hat sie die Chance bekommen, die Leistungsfähigkeit von S21 unter Beweis zu stellen. Beide Male hat sie das Ziel der 30-prozentigen Leistungssteigerung weit verfehlt: 49 Züge pro Stunde sollte der Bahnhof verkraften, bei 44 Zügen sind die Planer stecken geblieben. Und auch die mussten erst mit einem abenteuerlichen Betriebskonzept reingezwängt werden. Das muss man sich mal vorstellen: nach 15 Jahren Planung und 170 Millionen Euro an Planungskosten muss die Bahn zugeben: sorry, das Grundziel von Stuttgart 21 können wir leider nicht erreichen. Es gibt für uns keinen Anlass, anzunehmen, dass es im dritten Anlauf klappen könnte – sofern die Bahn objektiv und ergebnisoffen testen lässt.
Das Institut, dass den Stresstest durchführt, hat die Bahn als Hauptauftraggeber. Wie wird denn sichergestellt, dass der Test transparent und objektiv abläuft?
Das ist richtig, das Schweizer Unternehmen sma hat die Bahn als wichtigen Auftraggeber. Entscheidender ist aber, dass der Stresstest zu einem wesentlichen Teil von der bahneigenen DB Netz durchgeführt werden wird. Grube testet also sich selbst. Da muss man kein überaus misstrauischer Mensch sein, um mal kritisch zu hinterfragen, ob die erforderliche Objektivität und Ergebnisoffenheit nun wirklich gewährleistet ist, oder? Wir betrachten den Stresstest gewissermaßen als Fortsetzung der Fachschlichtung, denn erst wenn der Test erfolgt ist, werden alle Beteiligten zweifelsfrei wissen, was S21 zu leisten imstande ist, beziehungsweise welche Nachbesserungen es braucht. Damit die Ergebnisse aber zweifelsfrei von Befürwortern und Gegnern anerkannt werden können, halten wir es für unabdingbar, den Stresstest unter ähnlichen Bedingungen wie die Fachschlichtung durchzuführen. Wir wollen, dass ein Lenkungskreis, besetzt mit Experten der Befürworter und der Gegner, eingesetzt wird, der die Aufgabe hat, den Stresstest von der Aufgabenstellung bis zur Durchführung eng und aktiv zu begleiten.
Was passiert denn, wenn der Test zeigt: Ohne teure Nachbesserung kann Stuttgart 21 die versprochene Leistung – also 30 Prozent mehr Züge – nicht erbringen?
Dann müssen die Projektträger nachrüsten. Dass Bahn und Landesregierung schon Böses ahnen, lässt sich daran ablesen, dass sie jetzt begonnen haben, kleinzureden und schönzurechnen: Das neunte und zehnte Gleis werde man gar nicht brauchen…, wenn überhaupt nachgerüstet werden müsse, dann maximal in einer Höhe von 150 Millionen Euro…, man habe doch gar nicht das Ziel anvisiert, auch in der Spitzenzeit eine Leistungserweiterung von 30 Prozent zu erzielen… und so weiter. Die von Heiner Geißler vorgesehenen Nachbesserungen sind nicht vom Himmel gefallen. Sie wurden auch schon von einem der Erfinder von Stuttgart 21, Professor Heimerl, eingefordert. Und sie wurden schon früher längst quantifiziert. Wir reden hier von einem Volumen von etwa 500 Millionen Euro, die zusätzlich verbaut werden müssen.
Wie teuer wird’s denn eigentlich insgesamt?
Jetzt machen wir mal eine kleine Rechnung: Die Bahn hatte im Dezember 2009 eigentlich Kosten von 4,9 Milliarden Euro berechnet. Blöderweise lagen sie damit über die eigene Wirtschaftlichkeitsgrenze von 4,8 Milliarden. Deswegen wurden flugs 800 Millionen weggespart. Also operieren die Projektträger jetzt mit fiktiven 4.1 Milliarden Euro Kosten. Die wurden in der Schlichtung von drei Wirtschaftsprüfungsinstituten, sagen wir es mal vornehm, kritisch beleuchtet. Erstens wurde bemängelt, es fehlten knapp 200 Millionen an historischen Planungskosten. Macht 4,3 Milliarden. Dann machten die Prüfer nicht verbuchte Zinsverzichte der Stadt Stuttgart für die freiwerdenden Grundstücke in Höhe von nochmal 200 Millionen aus. Und weitere ausgeklammerte Kosten von etwa 150 Millionen Euro. Macht zusammen 4,6 Milliarden Euro. Da sind wir übrigens schon über der Grenze von 4,5 Milliarden Euro, wo laut Finanzierungsvereinbarung neu übers Geld verhandelt werden muss. Aber wir sind noch nicht durch. Das Volumen von 800 Millionen an Einsparungen wurde als zu optimistisch eingeschätzt. Rechnen wir konservativ, dass davon 300 Millionen nicht realisiert werden können. Macht 4,9 Milliarden Euro. Jetzt haben wir schon die 4,8-Mrd-Wirtschaftlichkeitsgrenze, die die Bahn AG gesetzt hat, gesprengt. Vergessen wir mal, dass die Wirtschaftsprüfer bei der Kostenrechnung der Bahn mehr Risiken als Chancen ausgemacht haben. Vergessen wir, dass der Bundesrechnungshof zu Gesamtkosten von 5,3 Milliarden Euro gekommen ist. Lassen wir unsere eigenen Prognosen und Berechnungen mal außer Acht, die auch deutlich höher ausfallen. Zählen wir „nur“ noch die erforderlichen Nachbesserungen in Höhe von satten 500 Millionen Euro hinzu. Dann liegen wir summa sumarum bei gut 5,4 Milliarden Euro. Der noch amtierenden Landesregierung ist es ja egal. Der Fraktionsvorsitzende der CDU Peter Hauk hat schon verlauten lassen: Ob es sieben, zehn oder fünfzehn Milliarden kostet, Stuttgart 21 rechnet sich! Aber die Bahn müsste das eigentlich anders sehen und bei solchen Kosten aussteigen. Ihr seht, die Empfehlungen des Schlichters, könnten leicht zum Bumerang werden, der das Projekt Stuttgart 21 ausknockt.
Heiner Geißler hat sich gegen eine Volksabstimmung ausgesprochen. Warum sind die Grünen trotzdem weiterhin dafür?
Heiner Geißler hat zurecht betont, dass eine Volksbefragung zu der Grundsatzfrage Stuttgart 21 ja oder nein rechtlich nicht zulässig ist. Das stimmt. Er hat zugleich betont, dass zum Beispiel die Stadt Stuttgart durchaus einen Bürgerentscheid durchführen kann, sollten sich die Kosten für die Stadt erhöhen. Gleiches gilt aus unserer Sicht auch für eine Volksbefragung auf Landesebene über die finanzielle Beteiligung des Landes. Das Thema Stuttgart 21 ist extrem aufgeladen, es spaltet seit Monaten Stadt und Land. Das hat sich zum Glück durch die Schlichtung etwas gelindert. Aber ich bin der Meinung, dass wir nur mit einer solchen Volksbefragung zu einem breit akzeptierten Ergebnis über Stuttgart 21 kommen können – vorausgesetzt natürlich, die Bahn steigt nicht vorher aus. Wir würden, sobald Ergebnis und Konsequenzen des Stresstests vorliegen, genau diese neue Lage den Menschen in Baden-Württemberg zur Abstimmung stellen, sofern grün-rot regiert natürlich. Denn schwarz-gelb hält nicht so viel von direkter Demokratie, die machen das nicht.
„Die Zeit der Basta-Politik ist vorbei“, lautet ein Fazit des Schlichterspruchs. Wie müssen künftig Großprojekte geplant und durchgeführt werden?
Das was jetzt viel zu spät bei Stuttgart 21 zugelassen wurde, muss zum Standardverfahren bei Großprojekten und umstrittenen Vorhaben gemacht werden. Die Bürgerinnen und Bürger müssen von Beginn an miteinbezogen werden. Die Schweiz praktiziert das seit langem und sehr erfolgreich. Da wird in einem ersten Schritt das Vorhaben zur Diskussion gestellt und abgestimmt, in einem zweiten Schritt wird dann erläutert und zur Abstimmung gestellt, wie das Vorhaben erreicht werden soll und was das bedeutet an Bauleistung, an Kosten und alles, was damit zusammen hängt. Und wenn das alles besprochen wurde und so wie vorgehabt oder mit Änderungen mit der Bürgerschaft beschlossen wurde, wird’s gebaut – mit weiterer Information an die Bürgerschaft. Langwieriger? Ja und nein. Die Phase der Bürgerbeteiligung braucht seine Zeit. Aber dafür kann nachher mit Zustimmung zügiger gebaut werden.
Hast Du den Eindruck, die Landesregierung und die Bahn haben in den letzten Wochen dazugelernt?
Zumindest haben alle wortreich bekundet, Stuttgart 21 sei das letzte Projekt, das derart zentral und in Basta-Stil hätte durchgedrückt werden sollen. Ich glaube auch, dass sich tatsächlich ein Lerneffekt eingestellt hat. Die Proteste gegen Stuttgart 21, die Hartnäckigkeit hunderttausenden Menschen, die gesellschaftliche Breite und dann natürlich der schlimme Polizeieinsatz im Schlossgarten, das alles hat bei allen Beteiligten tiefen Eindruck hinterlassen. Aber man wird sehen, in wie fern den Worten auch Taten folgen werden.
Welche Auswirkung hat die Schlichtung auf den Landtagswahlkampf?
Es ist zu früh, das abschließend zu beurteilen. Mir wird das oft nicht abgenommen, aber ich meine es ernst: Letztlich ist mir das auch egal. Die emotionale Aufladung, die Spaltung der Gesellschaft, das hat mir alles in den letzten Monaten große Sorge gemacht. Die Schlichtung hat zu einer dringend notwendigen Versachlichung der Auseinandersetzung geführt. Das ist der große Verdienst von Heiner Geißler gewesen. Und das dürfen wir nicht aufs Spiel setzen. Dass Befürworter wie Gegner weiterhin friedlich für ihre Anliegen protestieren und Kundgebungen in der Stadt abhalten, ist davon unbenommen. Das ist das gute Recht beider Seiten. Aber wir sollten uns in der Auseinandersetzung an dieser wiedergewonnenen Sachlichkeit halten. Und ich kann nur hoffen, dass die Bahn nicht in alte Mustern zurückfällt und die notwendige Transparenz und Offenheit in den nächsten Monaten wieder vermissen lässt. Jetzt geht es darum, den begleitenden Lenkungskreis für den Stresstest durchzusetzen und den Baustopp zu verlängern bis die Ergebnisse des Tests vorliegen.