Interview mit dem Landesvorsitzenden Chris Kühn zu PRISM, Tempora & Co.
Chris, wir erleben soeben den weltweit größten Datenschutzskandal. Dein Kommentar dazu?
Es ist – freundlich formuliert – mehr als irritierend, dass wir von befreundeten Geheimdiensten in diesem Ausmaß überwacht werden. Wir erleben einen digitalen Angriff auf unsere Privatsphäre und unser Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung. Beides sind fundamentale Grundlagen unserer rechtsstaatlichen Demokratie, die in Europa nach zahlreichen Diktaturen und Kriegen hart erkämpft wurden. Die Skrupellosigkeit, mit der die US-amerikanische NSA elementare Grundrechte aushebelt, ist für mich schlicht unbegreiflich – und erschreckend.
Deutschland muss reagieren. Welche Forderungen hast du an Kanzlerin Angela Merkel?
Ich erwarte eine unverzügliche Aufklärung des Bundestages und der Öffentlichkeit. Die Bundesregierung und insbesondere Angela Merkel müssen klare Kante zeigen! Sie müssen mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln dafür sorgen, dass die Überwachung der Internetkommunikation durch PRISM und das britische Äquivalent Tempora beendet wird. Darüber hinaus muss endlich geklärt werden, wie detailliert die Regierung Merkel Kenntnis von dieser Internet-Totalüberwachung hatte. Das Bundeskanzleramt muss öffentlich erklären, seit wann, zu welchen Anlässen, unter welchen Voraussetzungen und wie häufig der BND mit welchen Anfragen an die NSA herangetreten ist und welche Art von Informationen von der NSA erhalten wurden.
Niemand will etwas bemerkt haben. Haben unsere Kontrollmechanismen, hat unser Geheimdienst versagt?
Der BND hat wohl schon seit Jahren auf die Informationen der NSA zurückgegriffen. Trotzdem versichert Angela Merkel der Öffentlichkeit weiterhin, angeblich nichts davon gewusst zu haben. Die Verantwortung für die Koordination der Geheimdienste liegt beim Bundeskanzleramt. Wenn sich der Verdacht erhärtet, dass der BND und andere Sicherheitsbehörden in Kooperation mit anderen Geheimdiensten systematisch den deutschen Grundrechtsschutz ausgehebelt haben, muss dies Konsequenzen haben. Darüber hinaus brauchen wir eine breite Diskussion darüber, wie wir Sicherheit und Freiheit wieder in Einklang bringen können.
Grünen-Spitzenkandidat Trittin und andere haben die Aufnahme des "Whistleblowers" Edward Snowden in der EU oder in Deutschland gefordert. Die Bundesregierung hat eine Aufnahme abgelehnt. Wie siehst du das?
Es hätte Deutschland gut angestanden, Edward Snowden aufzunehmen. Er hat Unrecht aufgedeckt und sich um Menschenrechte und Demokratie verdient gemacht. Er hätte es also verdient, von einem demokratischen Rechtsstaat aufgenommen zu werden. Ich stimme mit Jürgen Trittin überein, dass es peinlich für eine Demokratie wie Deutschland ist, wenn Snowden nun ausgerechnet in Russland, bei Putin, Unterschlupf finden muss. Dass die Merkel-Regierung eine Aufnahme aus angeblich rechtlichen Gründen ablehnt, zeigt die Scheinheiligkeit dieser Regierung. Natürlich gibt es Möglichkeiten, Snowden in Deutschland aufzunehmen – man muss es nur wollen.
Wie enttäuscht bist du von Barack Obama und unseren US-amerikanischen FreundInnen?
Es sind ja nicht nur die USA, die Grenzen überschritten haben, sondern wohl auch Deutschland und die anderen EU-Staaten. Mit dem britischen Überwachungssystem Tempora, das PRISM in nichts nachsteht, ignoriert auch die britische Regierung die europäischen Verträge zum Datenschutz – ein beispielloser Vorgang in der EU. Selbstverständlich bin ich – wie viele andere auch – sehr enttäuscht vom Friedensnobelpreisträger Barack Obama. Es kann nicht sein, dass wir von Freunden ausspioniert werden. Unter engsten Verbündeten ist eine Totalüberwachung ein massiver Vertrauensbruch.
Soll das geplante Freihandelsabkommen vorerst auf Eis gelegt werden?
Ich halte es angesichts der Vorkommnisse für nötig, die Verhandlungen zum geplanten Freihandelsabkommen auszusetzen. Denn Freihandel ohne Freiheit gibt es nicht. Wir sollten zunächst Verhandlungen über gemeinsame Standards beim Datenschutz und beim Rechtsschutz für EU-Bürgerinnen und Bürger mit den USA abschließen, und erst dann die Verhandlungen zum Freihandelsabkommen wieder aufnehmen.
Datenspionage wird oft mit dem "Kampf gegen Terrorismus" verteidigt. "Mehr Sicherheit" ist doch ein starkes Argument?
Es gibt ein berechtigtes Interesse der Menschen nach Sicherheit. Leider werden aber gerade beim wichtigen Kampf gegen Terrorismus oft Grundrechte mit Blick auf sicherheitspolitische Überlegungen außer Kraft gesetzt. Die Bekämpfung des Terrorismus darf jedoch nicht länger den Rechtsstaat selbst in Frage stellen, sondern muss geführt werden, um den Rechtsstaat und eine offene Gesellschaft zu schützen. Ein Zitat von Benjamin Franklin ist heute aktueller denn je: „Wer die Freiheit aufgibt, um Sicherheit zu gewinnen, der wird am Ende beides verlieren.“