Die Krawalle in Stuttgart haben uns alle schockiert und verunsichert. Doch die anschliessende Debatte drehte sich fast nur um den vermeintlichen Migrationshintergrund der Verdächtigen. Muhterem Aras meint, das leistet nicht nur gesellschaftlicher Spaltung Vorschub, sondern lässt auch das Wesentliche aus dem Blick: Was können wir tun, um jungen Menschen ein Gefühl der Zugehörigkeit zu geben?
Von Muhterem Aras für Grüne Blätter 2/2020: Wir halten zusammen – auch mit Abstand
Fassungslosigkeit und Entsetzen über die durch nichts zu rechtfertigende Gewalt prägten den Morgen nach der Stuttgarter Krawallnacht. Und eine simple Frage, die ich bei meinen Gesprächen mit den Ladenbesitzer*innen in der Innenstadt ebenso gestellt bekam, wie in den Interviews der Journalist*innen, die alle wissen wollten: Wie kann das sein, hier, bei uns? Auf der reflexhaften Suche nach schnellen Antworten entstand in den folgenden Tagen aus dieser Frage eine Debatte, die dem Zusammenhalt unserer Gesellschaft Schaden zufügen kann. Ein Schaden, der nicht so schnell reparabel ist, wie die Schaufenster auf der Königsstraße. Ins Zentrum rückte die Frage, ob die Verdächtigen einen Migrationshintergrund haben. Die Antwort: Ja, etliche. Nur – was sagt das aus? In Städten wie Stuttgart oder Nürnberg hat heute die Hälfte der Gesellschaft irgendeinen anderen Hintergrund. Eltern, Großeltern – irgendwer ist immer irgendwo anders geboren. Unterscheidet man zwischen ‚Deutschen‘ und ‚Deutschen mit Migrationshintergrund‘, stellt man eine ganze Gruppe unter Generalverdacht und einen permanenten Erklärungsdruck. Wem so vermittelt wird, dass er oder sie nicht voll dazugehört, qua Herkunft ein Sicherheitsrisiko sei, der wird sich auch nicht als Teil des Gemeinwesens engagieren, sondern sich eher zurückziehen. So entstehen voneinander abgekapselte Milieus – Gift für den Zusammenhalt in der Gesellschaft.
Es hätte auch ein Schwabe sein können
Ich habe in diesen Wochen oft an den ehemaligen Stuttgarter Ober bürgermeister Manfred Rommel und den Mord auf der Gaisburger Brücke 1989 gedacht. Ich erinnere mich noch genau an diesen Tag, wir waren voller Anspannung: Was kommt jetzt für eine Stimmung, was für eine Debatte? Und dann sagte Rommel, bezogen auf den Täter – einen Asylbewerber: „Es hätte auch ein Schwabe sein können.“ Aus meiner jahrelangen Tätigkeit als Schöffin weiß ich: Der Geburtsort von Vater und Mutter hat wenig Einfluss darauf, ob jemand auf die schiefe Bahn gerät; die entscheidenden Fragen waren andere: In welchem sozialen Umfeld bewegen sich die Beschuldigten, welche Rolle spielen falsche Freunde, fehlende Strukturen, das Gefühl mangelnder Zugehörigkeit, Alkohol oder andere Drogen.
Überwinden wir die einseitige Fokussierung auf die Herkunft der Täter, können wir den Blick auf die strukturellen Faktoren richten, die bei der Suche nach einer wirksamen politischen Antwort auf Jugendkriminalität entscheidend sind. Unser Leitmotiv muss dabei sein, Zusammenhalt zu fördern – als Grundlage gegen das Gefühl des Abgehängtseins und daraus resultierende soziale Verwerfungen und „Wir gegen die“-Aggressionen. Das heißt: Wir brauchen Orte der Begegnung. Dabei geht es zuerst um den öffentlichen Raum. Junge Menschen brauchen Platz – auch jenseits der klassischen Jugendhäuser. Wie das funktionieren kann, zeigen Sozialarbeiter*innen in Stuttgart an einem (ehemaligen) Brennpunkt, dem Platz vor dem Shoppingcenter Milaneo. Hier stellen zuvor rivalisierende Gruppen mittlerweile gemeinsam etwas auf die Beine, etwa eine Hip-Hop-Kulturwoche. Die mobile Jugendarbeit hat es geschafft, viel Ärger und Aggressionen zu reduzieren. Durch Angebote, Ansprechparter*innen und Freiräume sind ein Zugehörigkeitsgefühl und ein Gefühl, gesehen zu werden, entstanden. Derartige Projekte müssen wir stärken und ausbauen – trotz und gerade angesichts der Pandemie.
Ebenso wichtig ist der Bildungsbereich. Das fängt bei den Ganztagsschulen und Kitas an. Denn dort kommen Kinder aus ganz unterschiedlichen Verhältnissen zum gemeinsamen Lernen zusammen. So lernen sie schon früh, Vielfalt zu schätzen und mit ihr umzugehen. Davon profitieren alle. Schulen sollten sich zudem stärker nach außen öffnen: Lehrer*innen wie Schüler*innen brauchen Freiraum, um Projekte mit Vereinen oder Kultureinrichtungen zu gestalten. Mit durchdachten Konzepten für mehr Teilhabe eröffnen sich so für Kinder neue Welten – und damit bessere Startchancen. Entscheidend ist aber auch eine kluge Wohnungspolitik. Eine vielfältige Stadtgesellschaft funktioniert nur, wenn Menschen unterschiedlicher Herkunft, Kaufkraft oder Lebenseinstellung nebeneinander wohnen und sich austauschen. Sozial durchmischte Viertel sind Grundvoraussetzung dafür, dass keine Gruppen entstehen, die sich abgehängt und nicht wahrgenommen fühlen. Deshalb brauchen wir eine Wohnungspolitik, die den Bau von Wohnraum für kleine und mittlere Einkommen attraktiv macht und für eine soziale Durchmischung unserer Städte sorgt – so, wie wir es mit der massiv aufgestockten Wohnraumförderung bereits begonnen haben.
Ein Beitrag aus unserer Mitgliederzeitschrift zum Thema Solidarität während der Conrona Pandemie: Grüne Blätter 2/2020: Wir halten zusammen – auch mit Abstand