Zu den ersten 100 Tagen der grün-roten Landesregierung gibt es viele Kommentare. Hier eine kleine Auswahl von Zeitungen und Verbänden:
Süddeutsche Zeitung
Selbst langjährige Beobachter der baden-württembergischen Landespolitik konnten sich an keinen vergleichbaren Auftritt einer Regierungsspitze entsinnen. Die Inszenierung der 100-Tage-Bilanz wurde kurzerhand in den blühenden Garten der Villa Reitzenstein verlagert und erinnerte ein bisschen an ein "Umsonst-und-Draußen"-Festival: Ministerpräsident Winfried Kretschmann (Grüne) und sein Vize Nils Schmid (SPD), jeweils leger in weißem Hemd vor weißer Tischdecke, zwischen sich lediglich ein gelbes Blumengesteck und über sich eine kostenlos herabsengende Sonne. Die Biertische und -bänke für die Journalisten hätten für deren dreifache Anzahl gereicht, und die elegant-glänzenden, terracottafarbenen Bank- und Tischbezüge gemahnten eher an ein Sommerfest- Ambiente. Aufgetischt wurden indessen nicht Bier und Schweinernes, sondern die erwartbaren ersten Erfolgsmeldungen von Deutschlands ungewöhnlichster Regierungskoalition.
Südwest Presse
Man kann füglich drüber streiten, welchen Sinn die 100-Tage-Bilanz einer neuen Regierung macht. Schon weil die willkürliche Frist, die sich inzwischen eingebürgert hat, für den eher schwerfälligen Politikbetrieb ziemlich kurz ist, sagt ein Urteil noch nicht viel aus. Das gilt auch für die grün-rote Koalition im Land, die nach fast sechs Jahrzehnten CDU-Herrschaft schon personell vor einem grundsätzlichen, auch zeitraubenden Neuanfang stand. Die meisten Ankündigungen aus der kleinteiligen Koalitionsvereinbarung können angesichts des langwierigen Vorlaufs noch gar nicht umgesetzt sein, ganz vieles ist noch nicht einmal angeschoben
Frankfurter Rundschau
Ein Urteil über dieses Projekt verbietet sich nach 100 grün-roten Tagen, die auf immerhin 58 tiefschwarzen Jahre folgen. Ein paar politische Duftmarken sind gesetzt, mehr nicht. Bemerkenswert aber: In der Wirtschaft sind die Sorgen vor der Öko-Wende weitgehend verflogen, seit die Chancen klar werden, die im Umbau etwa des Energiesektors stecken. Und Kretschmann mit seinem Landesvater-Bonus hält bisher auch die vielen bürgerlichen Grünen-Erstmalswähler bei der Stange, die sich früher bei der CDU aufgehoben fühlten. Ja, so könnte es was werden.
DGB Baden-Württemberg
„Die Koalition ist auf einem guten Weg – der Wechsel ist eingeleitet“, lobte DGB-Landeschef Nikolaus Landgraf. Nach 100 Tagen könne man keine Wunder erwarten – zumal in einem seit Jahrzehnten von konservativen Kräften geprägten politischen Umfeld. Auch werde vieles vom Streitthema Stuttgart 21 überlagert. Der sozial-ökologische Umbau der Wirtschaft, gute Arbeit für alle, mehr Chancengleichheit durch Bildung und mehr direkte Demokratie seien Ziele, die der DGB unterstütze. „Wir wollen, dass diese Regierung ein Erfolgsmodell wird“, so Landgraf.
Stuttgarter Nachrichten
Eigentlich wollten Winfried Kretschmann und Nils Schmid nicht ohne Selbstbewusstsein ihre Bilanz der ersten 100 grün-roten Regierungstage in Baden-Württemberg vorstellen. Ein bisschen Atomausstieg, ein wenig Integrationspolitik ein paar Sätze über die um ein Semester aufgeschobene Abschaffung der Studiengebühr, einige Bemerkungen zur Erhöhung der Grunderwerbsteuer – das war es dann aber auch schon, bevor beide wieder an dem Punkt landen mussten, wo Grün-Rot Mitte Mai abgehoben war: bei Stuttgart 21. Ein guter Start? Ja, findet der Ministerpräsident. Auf ihn selbst bezogen, kann man feststellen: Kretschmann hat recht. Auch die grün-roten Koalitionäre dürfen halbwegs mit den ersten 100 Tagen zufrieden sein. Angesichts größter S-21-Differenzen – die laut Kretschmann "eigentlich koalitionsverhindernd" sein müssten – arbeitet das im Regierungsalltag noch ungeübte Bündnis ziemlich harmonisch.
Frankfurter Rundschau
Kein Wunder, dass angesichts der S21-Schlagzeilen Erfolge kaum durchdringen. Dass die Koalition bereits wichtige Wahlversprechen etwa im Bildungsbereich umgesetzt hat, die Abschaffung der Studiengebühren und die der verpflichtenden Empfehlung der Grundschullehrer für den Übergang ans Gymnasium, ging fast unter. Ebenso, dass Baden-Württemberg dank Kretschmann im Bundesrat den Atomausstieg mit festzurrte.
Handelsblatt
Beim Unternehmer-Frühstück der IHK in Berlin bekannte Kretschmann: "Nach Stuttgart 21 ist EnBW die größte Baustelle, die ich gerade habe." Beide Themen überdecken die zaghaften Versuche, erste Akzente zu setzen. Die "Allianz für Fachkräfte" und die Schritte, Standorte für Windkraftanlagen freizugeben, finden in der Wirtschaft positive Resonanz. Und mit der Abschaffung der Studiengebühren hat Kretschmann begonnen, seine Wahlversprechen einzulösen.
Mannheimer Morgen
Das Experiment findet bundesweit Beachtung: Ausgerechnet im konservativ geprägten Baden-Württemberg, das die Schwarzen als Erbhof betrachteten, regiert seit 12. Mai mit Kretschmann der erste Ministerpräsident der Grünen. "Jedem Anfang wohnt ein Zauber inne", beschwor der gerade gewählte Regierungschef damals den Aufbruch mit den Worten des Dichters Hermann Hesse. Inzwischen ist frei nach Bert Brecht mehr von den "Mühen der Ebene" die Rede. Nach 58 Jahren CDU-Herrschaft haben sich Grüne und SPD viel vorgenommen. Vor allem das Schulsystem soll umgekrempelt und die Energiewende umgesetzt werden.
NABU Baden-Württemberg
Als „vielversprechend“ bezeichnet der Naturschutzbund NABU Baden-Württemberg die ersten 100 Tage der grün-roten Landesregierung. „Kretschmanns Mannschaft hat sich ordentlich warmgespielt und gute Szenen gezeigt, jetzt müssen Tore fallen“, sagte Baumann. „Alles in allem kann sich die Bilanz in Sachen Ökologie und Nachhaltigkeit nach 100 grün-roten Tagen sehen lassen – vor allem wenn man sie mit den vorangegangenen 20.000 schwarzen Tagen unter einer CDU-Regierung vergleicht.“
DIE WELT
"Ich nehme im Land eine wirklich gute Stimmung wahr. Die Leute nehmen die Politik des Gehörtwerdens sehr ernst." Solche Töne kommen bislang gut an im Land. Durchaus erfolgreich vermeidet es Kretschmann, jenen provozierenden Umgestalter zu geben, auf dessen Bekämpfung sich die Opposition schon gefreut hatte. Die CDU hat kaum eine Möglichkeit, gegen Kretschmann jene Wut zu richten, die in ihr seit dem Wahldesaster gärt.
Südkurier
Es wurde ein verheißungsvolles Bild gezeichnet zu Beginn dieser grün-roten Amtszeit. Nun mühen sich die Akteure, diesem gerecht zu werden. Gewiss: Der Ton ist ein etwas anderer. Man hört weniger gestanzte Sätze und, vor allem, kein Basta! Kretschmann stellt sich Bürgerversammlungen,er predigt sogar in Kirchen. Nils Schmid von der SPD gehört der Generation "neue Väter" an, die auch mal einen halben Tag für die Kinder zu Hause bleiben. Die Landesregierung wirkt insgesamt sympathisch. Aus den Startlöchern aber kam sie in diesen ersten Monaten nicht.
Reutlinger General-Anzeiger
Auf vielen Politikfeldern hat Grün-Rot den Vertrauensvorschuss gerechtfertigt. Vor allem in der Umwelt- und Energiepolitik werden erkennbar neue Akzente gesetzt. Vor allem aber, und das ist vielleicht das größte Verdienst der Regierung Kretschmann, hat sie die von den Wählern verliehene Macht nicht als Aufforderung zu einem radikalen Umbau Baden-Württembergs missverstanden. Grün-Rot treibt die Veränderungen behutsam voran. Das ist vernünftig.
BUND Baden-Württemberg
Der Bund für Umwelt und Naturschutz Deutschland (BUND), Landesverband Baden-Württemberg, sieht vielversprechende Ansätze nach den ersten 100 Tagen der neuen Landesregierung. Die Landesvorsitzende, Brigitte Dahlbender: „Wir erwarten einen grundlegenden Politikwechsel in Fragen des Umwelt- und Klimaschutzes. Es ist klar, dass dieser in 100 Tagen nicht vollzogen werden kann. Wir sehen aber erste vielversprechende Ansätze.“
Financial Times Deutschland
Bildung: Hier löst die grün-rote Regierung ein wichtiges Versprechen ein. Denn ab dem Sommersemester 2012 fallen an den Hochschulen des Landes die Studiengebühren von 500 Euro pro Semester weg: Das Gesetz ist auf den Weg gebracht. Im Gegenzug wird die Grunderwerbsteuer erhöht, die ab Oktober von 3,5 Prozent auf fünf Prozent steigen soll. Die zusätzlichen Einnahmen sollen in Kindergärten und die Kleinkindförderung fließen. Dass die Koalition die Grunderwerbsteuer erhöht, ist ein logischer Schritt. Denn ein Bundesland kann an kaum einer anderen Steuerschraube drehen, um seine Einnahmen deutlich zu erhöhen.
Badische Zeitung
Soweit ist es gekommen. Jetzt nehmen schon konservative Organe die neue Landesregierung in Schutz. So rügt die FAZ – sie gilt nicht unbedingt als grünrot- verliebt – die baden-württembergische CDU für ihren "unversöhnlichen und manchmal nicht zu bürgerlichen Gepflogenheiten passenden Ton in der Auseinandersetzung mit der grün-roten Regierung". Muss man nach hundert Tagen Amtszeit bereits Mitleid haben mit dem grünen Ministerpräsidenten Kretschmann und seinem roten Stellvertreter Schmid? Natürlich nicht. Sicher, die beiden stehen fast vom ersten Tag an in garstiger Zugluft, aber – da wollten sie auch hin. Sie haben ihr Bündnis mit und trotz einer fundamentalen Meinungsverschiedenheit geschlossen, derjenigen um Stuttgart 21. Dass dies auf Weiteres die Regierungsarbeit dominiert, ist ärgerlich. Aber hätten sie es deshalb bleiben lassen sollen? Sie sind gestartet im Dissens und wollen zum Konsens kommen. Wohlan. Bei anderen Koalitionen in Deutschland kann man glatt den gegenteiligen Eindruck bekommen, siehe Berlin.