Knapp zwei Monate vor der Landtagswahl zeichnet sich ein Kopf-an-Kopf-Rennen zwischen der schwarz-gelben Koalition und Grün-Rot ab. Im Interview mit Oliver Stortz wirbt er für Vielfalt im Schulsystem – und kontert den CDU-Vorwurf, die Grünen seien eine „Dagegen-Partei“.
Herr Kretschmann, Kanzlerin Angela Merkel hatte die Landtagswahl zur Volksabstimmung über Stuttgart 21 erklärt. Wird es eine?
Kretschmann: Wir waren noch nie dieser Ansicht. Wir wollten immer, dass direkt über das Projekt entschieden wird und nicht in Form einer Parlamentswahl. Bei der Landtagswahl werden auch andere wichtige Fragen wie der Atomausstieg, der von Mappus eigenmächtig eingefädelte Kauf der EnBW und die Bildungspolitik eine Rolle spielen. Wenn wir gemeinsam mit der SPD regieren, wollen wir das Volk über Stuttgart 21 abstimmen lassen.
Ihre Sprachregelung lautet, Sie wollen als Regierungspartei „alles“ für den Ausstieg aus Stuttgart 21 tun – was heißt denn „alles“?
Kretschmann: Alles zu tun heißt, alle rechtlichen Möglichkeiten auszuschöpfen, die wir haben. Es ist ja auch kein Koalitionspartner in Sicht, der wie wir gegen das Projekt ist. Schon von daher können wir den Ausstieg nicht einfach selbst umsetzen. Mit den Sozialdemokraten gibt es den Konsens, das Volk zu befragen. Aber auch ein Volksentscheid ist rechtlich nur über die Zuschüsse des Landes an das Projekt möglich.
Heiner Geißler als Schlichter zu berufen, war Ihr Vorschlag. Haben Sie sich in Anbetracht seines Votums mit der Personalie verspekuliert?
Kretschmann: Nein, aber wir waren überrascht, dass er überhaupt ein Votum abgegeben hat. Das einzige, worauf wir uns im Rahmen der Schlichtung mit der Befürworterseite geeinigt haben, ist der Stresstest für Stuttgart 21. Es wäre gut, wenn sich die Gegenseite daran jetzt halten würde und nicht schon jetzt sagt, ein neuntes oder zehntes Gleis machen wir am Ende sowieso nicht.
Viele haben in der Schlichtung nicht Sie, sondern den Tübinger Oberbürgermeister Boris Palmer als grünen Frontmann wahrgenommen. Wieso die Zurückhaltung?
Kretschmann: Boris Palmer gehört zu den besten Verkehrsexperten der Republik. Es ging um die Aufklärung in der Sache. Boris Palmer hat die entscheidenden Fragen durchdrungen, er ist zugleich ein begabter Politiker, der kommunizieren und zuspitzen kann. Deshalb war er der absolut Richtige.
Die Demonstrationen sind kleiner geworden, die Debatte abgeflaut. Ist der Konflikt befriedet oder hat die Schlichtung die Gegner ermattet?
Kretschmann: Stuttgart 21 mit der Schlichtung wird die Republik grundlegend verändern. Es wird nicht mehr möglich sein, Großprojekte so durchzuziehen, wie es die Regierung hier versucht hat. Es werden neue Formate der Bürgerbeteiligung Eingang in Planungen und Entscheidungen finden. Nicht nur die starken Lobbygruppen werden Zugang zu Regierung und Parlament haben, sondern auch die Zivilgesellschaft. Wie der Streit um Stuttgart 21 auch ausgeht, ich halte die Proteste und ihre Auswirkungen für einen enormen Erfolg der Bürgergesellschaft.
Im Untersuchungsausschuss zum Polizeieinsatz im Schlossgarten ist die Opposition den ultimativen Beweis schuldig geblieben, der Ministerpräsident habe das harte Vorgehen angeordnet. Ein Freispruch aus Mangel an Beweisen?
Kretschmann: Es ist überhaupt kein Freispruch. Alles spricht dafür, dass der Ministerpräsident entscheidend Einfluss auf die Ereignisse an diesem Schwarzen Donnerstag genommen hat. Das konnten wir schlüssig darlegen, wenn auch nicht im Sinne eines strikten Beweises. Die Indizien sprechen dafür.
Die CDU stempelt Sie neuerdings als „Dagegen-Partei“ ab. Trifft Sie das?
Kretschmann: Dieser Vorwurf ist dümmlich und unsinnig. Es gehört zum Wesen der Demokratie, dass es Alternativen gibt. Wer für den Kopfbahnhof ist, kann nicht zugleich für Stuttgart 21 sein. Sagt man zum einen Ja, muss man zum anderen Nein sagen. So ist es bei den allermeisten Dingen, um die wir in der Demokratie streiten. Wer das Nein in einer Demokratie so denunziert wie die CDU, sollte mal darüber nachdenken, wo nicht Nein gesagt werden darf: in Diktaturen. Der Kern und das Wesen der Demokratie ist, dass es immer um Alternativen geht, um Ja und Nein.
Stefan Mappus müht sich, ein Image als Macher zu pflegen, zum Beispiel mit dem EnBW-Deal…
Kretschmann: Mappus ist kein Macher. Was hat er denn bisher hinbekommen? Er hat in zehn Monaten so viele Fehler gemacht wie seine Vorgänger in einer ganzen Legislaturperiode nicht. Der EnBW-Kauf ist dafür ein Beispiel: am Parlament vorbei, in einer Größenordnung von 20 Prozent des Landeshaushaltsvolumens. Die Gefahr ist enorm groß, dass uns das auf die Füße fällt. Eine grandiose Fehlleistung von Mappus.
Ihre Vision in der Bildungspolitik ist längeres gemeinsames Lernen. Können Sie Schülern und Eltern schon wieder eine Großbaustelle Schule zumuten?
Kretschmann: Genau das haben wir nicht vor. Wir wollen individuelle Förderung. Allen Initiativen, die mit neuen Schulmodellen diesem Ziel näher kommen wollen, werden wir den Weg dafür frei machen. Gute Schulen werden von unten gemacht und nicht von oben. Wir werden das Schulwesen für Innovationen öffnen und den Kommunen und Schulgemeinschaften mehr Verantwortung übertragen.
Wie soll in dieser Vielfalt der Schulmodelle die Chancengleichheit gewahrt bleiben?
Kretschmann: Die Vielfalt dient gerade der Chancengleichheit. Menschen haben verschiedene Wege, um zu lernen. Alle Schulen werden sich an Standards messen lassen müssen, aber wie sie diese Standards erreichen, das müssen wir ihnen stärker selbst überlassen.
Die Landesregierung klagt gemeinsam mit Bayern und Hessen gegen den Länderfinanzausgleich. Von Ihnen kommen zu dem Thema leisere Töne…
Kretschmann: Änderungen an so fundamentalen Fragen unserer föderalen Ordnung sind nur zu machen, wenn man mit Vorschlägen, von denen alle etwas haben, in die bundespolitische Arena geht. Mit einer populistischen Klagedrohung verhindert man das eher, man macht nur Krach, bekommt aber keine Lösung. Wenn wir die Regierungsverantwortung übernehmen, wollen wir mit Vorschlägen für eine Neuordnung des föderalen Finanzsystems, die nicht so leistungsfeindlich sind wie die jetzige Praxis, eine starke Rolle in der Bundespolitik spielen anstatt zu klagen.
Zwei Monate vor der Landtagswahl grassiert die Ausschließeritis. Nur Sie wollen sich alle Optionen offen halten. Manche legen Ihnen das als Unberechenbarkeit aus.
Kretschmann: Wir wollen die CDU auf die Oppositionsbank schicken. Und wir wollen zusammen mit den Sozialdemokraten einen Politikwechsel herbeiführen. Aber wir wissen aus vergangenen Wahlen: Es können Situationen entstehen, die man nicht vorhergesehen hat, sich nicht wünscht und mit der man dann doch konstruktiv umgehen muss. Wir müssen gesprächsfähig bleiben, damit wir handlungsfähig bleiben.
Quelle: Esslinger Zeitung