Nationalismus gilt in progressiven Debatten vor allem als das Phänomen, das den Errungenschaften des letzten Jahrhunderts wie der multilateralen Weltordnung und einem vereinten Europa an den Kragen geht. Tatsächlich steht er aber in einem dialektischen Verhältnis zu bürgerlichen Errungenschaften.
Jamila Schäfer über Nationalismus in Grüne Blätter 2/2018: Gedanken & Spiele
Denn Bürger*innenrechte und die multilaterale Weltordnung sind erst durch Nationalismus ermöglicht worden. In der Zeit der Aufklärung erfüllte der Nationalismus einen emanzipatorischen Zweck. So diente der erste liberal-demokratische Nationalismus der französischen Revolution dem fortschrittlichen Ziel, Menschen über bestehende Grenzen hinweg im Kampf gegen bestehende feudale bzw. absolutistische Herrschaftsverhältnisse zu vereinen und handlungsfähig zu machen. Die Nation wurde als zugängliche politische Willensgemeinschaft gedacht, die Menschen – damals vor allem Männer – zu gleichen und freien Bürgern macht. Die republikanische Nation wurde explizit als politisches Ziel einer demokratischen Bewegung formuliert.
Nation ohne Ratio
In Abgrenzung zu diesem republikanischen Nationalismus entstand ein gegenaufklärerisches Nationalismuskonzept, das sich nicht in einem Prozess der Selbstermächtigung herausbildete, sondern das als Herrschaftsmittel zur politischen Homogenisierung der Bevölkerung angewandt wurde. So entstand die Vorstellung der Nation als eine naturgegebene Abstammungs- und Schicksalsgemeinschaft, die mit Sagen und Mythen legitimiert und entrationalisiert wurde.
Die idealtypische Unterscheidung zwischen einem französischen oder US-amerikansichen, republikanischen Nationalismus und einem deutschen Blut-und-Boden-Nationalismus hält der Realität aber nicht stand. Denn die republikanische Idee der Nation als politische Wahlgemeinschaft, die auf freiem Willen und Beitritt beruht und der alle Menschen frei und gleich sind, wurde so nie realisiert, auch nicht in Frankreich oder in den USA. Beispiele dafür sind etwa die Sklaverei und der Ausschluss von Frauen vom Wahlrecht, aber auch bis heute bestehende soziale Ungerechtigkeiten.
Nationalismus entzivilisiert, wenn wir ihn nicht hinterfragen
Nationalismus ist trotz positiver Errungenschaften ein Konzept sozialer Ausgrenzung. Die Versuche, die negative Utopie einer möglichst ethnisch, politisch und kulturell homogenen Nation zu realisieren, haben in der Geschichte der Menschheit viele Anlässe für brutalste Gewalt geschaffen und Menschen gegeneinander ausgespielt – obwohl sich die meisten Menschen ihre Nationalität nie selbst ausgesucht haben.
Nationalismus hat nicht nur zivilisiert. Er entzivilisiert uns auch, wenn wir ihn nicht hinterfragen. Deshalb sollten wir die Errungenschaften des Nationalismus nie zur Verklärung seiner Gefahren missbrauchen.
Ein Beitrag aus unserer Mitgliederzeitschrift über grüne Perspektiven: Grüne Blätter 2/2018: Gedanken & Spiele