Tausende junge Menschen haben in diesem Jahr mit großer Ausdauer und vielfältigen Aktionen gegen die Zustände in Schulen und Hochschulen protestiert. Sie fordern bessere Bildung und eine grundlegende Umorientierung unserer Bildungspolitik, besonders im G8 und in den neuen Bachelor- und Master-Studiengängen. Mit ihren Protesten haben sie Verantwortliche im Bildungssystem und PolitikerInnen wachgerüttelt. Von allen Seiten wird zwar Verständnis für ihre Anliegen signalisiert, aber ob daraus reale Verbesserungen erwachsen, müssen die Verantwortlichen erst noch beweisen. Der Landesvorstand von Bündnis 90/Die Grünen unterstützt die Bildungsprotestbewegung. Wir setzen uns gemeinsam mit den Protestierenden für eine radikale Kurskorrektur in der baden-württembergischen Bildungspolitik ein. Denn für die Zukunftsfähigkeit unseres Landes ist Bildung systemrelevant.
Gute Bildung ist kein knappes Gut
Unser Bildungswesen ist im Vergleich zu anderen Ländern unterfinanziert. In den vergangenen Jahren ist Deutschland im OECD-Schnitt weiter zurückgefallen. Fehlende Investitionen in Bildung machen sich besonders durch Defizite in der frühkindlichen Bildung, beim Ausbau der Ganztagsschulen und bei fehlenden Studienplätzen bemerkbar.
Wir brauchen mehr Zugangsgerechtigkeit in unserem Bildungssystem. Deshalb dürfen gute Bildungsangebote keine Mangelware sein. Für den notwendigen quantitativen und qualitativen Ausbau unserer Bildungseinrichtungen ist eine enorme finanzielle Anstrengung im Land nötig. Deshalb müssen andere Dinge hinter besserer Bildung zurückstehen.
Gute Bildung darf nicht vom elterlichen Geldbeutel abhängen
In Deutschland ist der Bildungserfolg eng an die familiäre Herkunft gekoppelt. Das ist weder sozial gerecht noch führt es zu einem hohen Bildungsniveau im internationalen Vergleich. Es kann nicht sein, dass ein abgeschlossenes Hochschulstudium für Akademikerkinder der Regelfall ist, während Nicht-Akademikerkinder mit hoher Wahrscheinlichkeit außen vor bleiben. Deshalb fordern wir den sofortigen Ausbau eines bedarfsdeckenden Angebotes an guten KiTas, gerade auch im Ganztagesbetrieb, an Ganztagesschulen für alle Schularten und an kostenlosen Weiterbildungsangeboten zum Nachholen von Schulbildungsabschlüssen ein. Wir betonen, dass der Ausbau einer guten Kinderbetreuungsinfrastruktur angesichts der desolaten Haushaltssituation Vorrang vor der Forderung nach gebührenfreien KiTas, der Kindergelderhöhung und dem sog. Betreuungsgeld der Bundesregierung hat. Wir fordern die Landesregierung auf, die Studiengebühren wieder abzuschaffen und eine nachhaltige Hochschulfinanzierung sicherzustellen. Außerdem bestehen wir auf einer Reform der Studienfinanzierung, denn das bestehende BAFöG erreicht zu wenige, um die gesamte Lebensphase Studium finanziell abzusichern. Verbessert werden muss auch die Finanzierung von beruflicher Bildung und Weiterbildung im Sinne lebenslangen Lernens.
Gute Bildung darf kein Hürdenlauf sein
Wir brauchen alle Talente in unserem Land. Alle Talente zu heben, muss Ziel unserer Bildungspolitik sein. Aber die Realität sieht anders aus: Permanente Begleiterscheinung im Leben von SchülerInnen und Studierenden ist die Furcht, aussortiert zu werden. In vielfältiger Weise ist dieses Bildungsunwesen verkörpert: Förderschule, sog. Grundschulempfehlung, NC für WerkrealschülerInnen und RealschülerInnen beim Übergang zum beruflichen Gymnasium, Sitzenbleiben, erzwungener Schulwechsel, Eignungsfeststellungsprüfungen zu Studienbeginn und ein massiver Prüfungsdruck im Bachelorstudium. Mit der Einführung von G8 in der Schule und den gestuften Studiengängen wurden vielerorts das extreme Stoffabfragen und überbordender Prüfungs- und Klausurendruck zum durchgängigen Prinzip. Wir brauchen stattdessen eine Lernkultur, in der individuelle Förderung im Zentrum steht. Bildungsabschlüsse müssen zu Anschlussmöglichkeiten führen anstatt in Sackgassen zu enden.
Gute Bildung braucht Zeit
Wertvolle Zeit wird am Anfang verschenkt, weil unsere Kindergärten nicht in die Lage versetzt werden, als frühkindliche Bildungseinrichtungen Kinder aus bildungsfernen Schichten optimal zu fördern. Danach wird Bildungszeit verknappt – in dieser Logik wurden G8 eingeführt und die Bachelor-Studiengänge an Universitäten auf sechs Semester gestutzt. Dieser Zeitdruck ist überzogen. Damit muss Schluss gemacht werden.
Wir fordern, dass die von der Kultusministerkonferenz (KMK) festgelegte Obergrenze von 10 Semestern für BA plus konsekutivem MA aufgehoben wird, damit Zeit für Einführungssemester zur Orientierung und Studium Generale, für Auslandssemester und Praktika bleibt. Entsprechend müssen die BaFög-Regelungen durch eine längere Förderhöchstdauer und die Möglichkeit zum zweifachen Fachwechsel angepasst werden.
Studieren muss möglich in unterschiedlichen Geschwindigkeiten und mit unterschiedlichen Familienverhältnissen sein: Deshalb sind mehr Teilzeitstudiengänge und berufsbegleitende Studiengänge notwendig, und die Hochschulen müssen familienfreundlicher werden.
Gute Bildung zielt auf Selbstständigkeit und Nachhaltigkeit
Die Lernverhältnisse in unseren Schulen – und neuerdings auch Hochschulen – sind dominiert vom Stoffpauken und Stoff-Abfragen, vom Belehren und Klausuren-Prüfen. Wir brauchen aber eine neue Lernkultur und nicht mehr Klausuren, bei der das ganzheitliche und selbstständige Aneignen von Wissen und Können der SchülerInnen und Studierenden im Mittelpunkt steht. Mit der Bologna-Reform ist die Zielsetzung verbunden, Studierende zu „employability“ und zu „citizenship“ zu befähigen: Ihre Chancen am Arbeitsmarkt sollen ebenso verbessert werden wie ihre Fähigkeit, als mündige BürgerInnen verantwortlich zu handeln. Diese Zielsetzung muss endlich Einzug in die Reformdebatte erhalten.
Studierenden muss ermöglicht werden, über den disziplinären Tellerrand zu blicken und ein selbstständiges Urteil fällen zu können. Dafür brauchen sie Weltoffenheit und Kreativität. Dafür müssen sie schon in Schule und Studium erleben, dass sie gefragt sind Verantwortung zu übernehmen und selbst zu handeln.
Gute Bildung braucht Partizipation
In unseren Bildungseinrichtungen sind die Spielräume für Eigenverantwortung und Mitsprache aller Beteiligten außerordentlich klein. Nach wie vor herrscht Behördengeist vor, und die Ministerialbürokratie mischt sich bis in kleinste Details in die inneren Angelegenheiten von Schulen und Hochschulen ein. Selbstbewusste SchulleiterInnen, die in Sorge um ihre Schule an die Öffentlichkeit gehen, werden nicht gehört und unter Druck gesetzt. Studierenden wird jede ernste Mitsprache verweigert mit dem Hinweis, Hochschulen seien keine demokratischen Spielwiesen.
Wir wollen, dass unsere Schulen und Hochschulen zu Orten gelebter Partizipation werden. Die in der Schule und in der Hochschule Tätigen, Eltern-, Schüler- und Studierendenvertretungen müssen echte Gestaltungsspielräume erhalten, ihre eigenen Profile entwickeln dürfen. Kommunen müssen das Recht erhalten, neue Basisschulen aufzubauen, jenseits der alten Dreigliedrigkeits-Ideologie, wenn sie dies vor Ort erproben wollen
In unseren Schulen und Hochschulen muss Demokratie erlebt und erprobt werden, denn Demokratie kann man nicht nur theoretisch als Unterrichtsfach vermitteln, sondern sie ist tagtäglich zu leben.
Es muss endlich Schluss sein mit dem Verbot der Verfassten Studierendenschaft in Baden-Württemberg – einem Relikt aus der Zeit der RAF. Wir fordern eine organisierte und institutionalisierte Interessenvertretung von Studierenden zurück, die nicht nur in hochschulpolitischen Angelegenheiten Rederecht hat, sondern sich in voller Freiheit zu allem äußern kann, was Studierenden wichtig ist. Studierenden muss mehr Entscheidungsmacht gegeben werden. Die jetzt anstehenden Reformen bei den Bachelor- und Masterstudiengängen müssen mit den Studierenden gemeinsam entwickelt und umgesetzt werden.
Unsere Forderungen:
- Wir fordern deshalb das Landesparlament auf, im Doppelhaushalt 2010/11 eine klare Prioritätensetzung im Bildungs- und Hochschulbereich zu setzen.
- Wir fordern den massiven Ausbau von guten Betreuungseinrichtungen in Baden-Württemberg.
- Wir fordern die Landesregierung auf, die Studiengebühren wieder abzuschaffen und eine nachhaltige Hochschulfinanzierung sicherzustellen.
- Wir fordern den bedarfsgerechten Ausbau der Masterstudienplätze.
- Wir fordern, dass die von der Kultusministerkonferenz festgelegte Obergrenze von 10 Semestern für BA plus konsekutivem MA aufgehoben wird.
- Wir fordern die Landesregierung auf, sicher zu stellen, dass die Flut an Klausuren in Bachelor-Studiengängen zurückgenommen wird.
- Wir fordern die Wiedereinführung von Verfassten Studierendenschaften in Baden-Württemberg.
- Wir fordern die Landesregierung auf, die Autonomie der Schulen und Hochschulen zu stärken und nicht weiter zu schwächen.
- Wir fordern längeres gemeinsames Lernen, die Abschaffung von Grundschulempfehlung und Sitzenbleiben.
- Wir fordern die Landesregierung auf, die ab 2011 vorgesehenen flächendeckend verpflichtenden Aufnahmeprüfungen an baden-württembergischen Hochschulen zurückzunehmen.
- Wir fordern Qualitätssicherung und -entwicklung in den Hochschulen und unter Beteiligung von Studierenden, denn die Erfahrung hat gezeigt, dass sich dies nicht an Akkreditierungsagenturen delegieren lässt.
<iframe width=“640″ height=“360″ src=“https://www.youtube.com/embed/FyhugyJmSeI“ frameborder=“0″ allowfullscreen></iframe>