2018 erregte die US-amerikanische Forschungsgruppe „More in Common“ mit der Studie „Hidden tribes“ Aufsehen: Sie identifizierte eine „erschöpfte Mehrheit“, die durch die Spaltung der Gesellschaft ermüdet sei und sich nach dem Ende der Polarisierung sehne. Nun gibt es eine deutsche Variante der Studie. „Die andere deutsche Teilung“ bietet interessante Ansätze für den Kampf gegen den Populismus.
Von Caroline Blarr für Grüne Blätter 4/2019: Mutbürger statt Wutbürger
In seinem viel beachteten Essay „Das Ende der Geschichte“ prognostizierte Francis Fukuyamas den unaufhaltsamen Siegeszug der liberalen Demokratie. 30 Jahre später scheint das Gegenteil der Fall. Von Trump über Orbán bis Bolsonaro – weltweit gewinnen Rechtspopulist*innen Wahlen und die Gesellschaft scheint sich zunehmend zu spalten. Wo steht die deutsche Gesellschaft und wo bewegen wir uns hin? Wie lässt sich eine Wir-gegen-die- Dynamik verhindern?
Das wollte die Forschungsgruppe von „more in common Deutschland“ herausfinden und hat dafür mehr als 4.000 Menschen quantitativ und qualitativ befragt. Mitautor Jérémie Gagné erklärt, was im Vergleich zu bisher erschienen Gesellschaftsstudien neu ist: „Wir fragen nicht in erster Linie nach politischen Einstellungen, soziökonomischen oder demographischen Indikatoren, sondern wählen einen sozialpsychologischen Ansatz: Aus welchem Winkel schauen die Befragten auf die Welt? Was treibt sie an? Welche Werte und Grundüberzeugungen teilen sie?“ Ihre Studie identifiziert eine Dreiteilung der Gesellschaft, die sich aus sechs unterschiedlichen Typen aufbaut:
- Die gesellschaftlichen Stabilisatoren bestehen aus Involvierten (Menschen mit Bürgersinn, die gesellschaftliches Miteinander schätzen) und Etablierten (zufrieden mit dem Status Quo, schätzen Verlässlichkeit und gesellschaftlichen Frieden)
- Die gesellschaftlichen Pole bestehen aus Offenen (finden Selbstentfaltung, Weltoffenheit und kritisches Denken wichtig) und Wütenden (schätzen Kontrolle und nationale Ordnung, sind wütend aufs System, großes Misstrauen)
- Das unsichtbare Drittel besteht aus Pragmatischen (setzen vor allem auf Erfolg und privates Fortkommen, wenig politisches Interesse) und Enttäuschten (Verlust von Gemeinschaftsgefühl, wünschen sich Wertschätzung und Gerechtigkeit)
Was lässt sich daraus für den Umgang mit Wählerinnen und Wählern lernen, die mit populistischen Positionen sympathisieren? Jérémie Gagné: „Aus unserer Sicht sollten sich die politischen Akteure stärker als bislang dem ,unsichtbaren Drittel‘ aus Pragmatischen und Enttäuschten zuwenden. Im Gegensatz zu den Wütenden, die ein klares nationales Weltbild haben und meist genau wissen, was sie politisch wollen, fehlt es diesen Menschen nämlich in unserer Demokratie zuallererst an Orientierung, Einbindung und Zuversicht. So stellt das ,unsichtbare Drittel‘ mehr als die Hälfte der Nichtwähler. Dabei verbindet gerade die Enttäuschten ein tiefes Gerechtigkeitsbedürfnis und der Wunsch nach politischen Antworten. Sie wollen Teil einer funktionierenden Gesellschaft sein.“ Das „Abgehängtsein“ ist also weniger ein ökonomisches Phänomen, sondern vielmehr eine politisch-soziale Frage. Es geht darum, das unsichtbare Drittel sichtbar zu machen und neue Möglichkeiten des „Gehörtwerdens“ sowie der politischen Teilhabe zu schaffen!
Ein Beitrag aus unserer Mitgliederzeitschrift zum Thema Rechtsradikalismus: Grüne Blätter 4/2019: Mutbürger statt Wutbürger