Winfried Kretschmann spricht im „Welt am Sonntag“-Interview über Revolutionslieder, seine Grünen und die Selbstorganisation der Bürger.
Ein fast schon sommerlicher Apriltag in Stuttgart. Winfried Kretschmann, vermutlich bald der erste grüne Ministerpräsident Deutschlands, kommt gerade aus einer schwierigen Runde der Koalitionsverhandlungen mit der SPD. Es ging um Stuttgart 21, das Ergebnis erwartbar mager: Man war sich einig, dass man in der Sache uneinig ist. Kretschmann nimmt vor dem Interview auf der Terrasse des Landtags ein kleines Mittagessen ein, gut schwäbisch: Maultauschen, dazu eine doppelte Apfelsaftschorle.
Der Interviewer ist mit Kretschmann seit fast 30 Jahren befreundet. Deswegen ist die Anredeform „du“. Es ist in diesem Gespräch wie im richtigen Leben: Eine Rückübersetzung ins Siezen wäre albern.
Welt am Sonntag: Als sich die Grünen Baden-Württembergs im vergangenen Herbst wie nie zuvor im Aufwind sahen, sagtest du den viel zitierten Satz: „Ich bleibe auf dem Teppich, auch wenn der Teppich fliegt.“ Jetzt bist du mitten in schwierigen Koalitionsverhandlungen. Fliegt der Teppich noch?
Winfried Kretschmann: Der Teppich ist wieder auf dem Boden…
Welt am Sonntag: …flattert er noch ein bisschen?
Winfried Kretschmann: Er flattert noch etwas, aber er hat wieder Bodenhaftung. Die Mühen der Ebene haben wieder begonnen.
Welt am Sonntag: Du kennst die Härten der Politik – ist es ernüchternd, nach dem großen Wahlerfolg bei der Landtagswahl in den Koalitionsverhandlungen den harten Zwängen der Realpolitik ausgesetzt zu sein, die wenig Platz für Visionen lassen?
Winfried Kretschmann: Es ist für mich nicht ernüchternd, ich weiß das einfach und ich war innerlich vorbereitet auf schwere Rahmenbedingungen und harte Zwänge. Ob wir die kleinen Stellschrauben finden, mit denen man mit nur wenigen Umdrehungen viel bewirken kann, das kann sich erst im Regierungshandeln erweisen, nicht schon im Koalitionsvertrag.
Welt am Sonntag: Vor 25 Jahren haben wir beide eine völlig minoritäre Strömung der Grünen gegründet, die „Ökolibertären“. Wir wollten eine grüne Partei, die nicht links ist, sondern bürgerlich, wir hielten schon damals Schwarz-Grün für eine denkbare Option – und waren deswegen in einer ganz aussichtslosen Position. Jetzt wirst ausgerechnet du erster grüner Ministerpräsident. Wie muss man sich den Weg von damals zu heute vorstellen?
Winfried Kretschmann: Es war wirklich ein weiter und auch ein steiniger Weg. Ich erinnere mich, dass wir damals eine Broschüre mit dem Titel „Systemopposition oder Volkspartei“ gemacht haben. Die Mehrheit der Grünen sah sich damals eher gesellschaftlich und politisch isoliert und setzte auf Systemopposition. Wir waren wahnsinnig genug, von einer grünen Volkspartei zu fantasieren.
Zwischendurch war ich, zugegeben, oft der Ansicht, dass wir uns von der Idee der grünen Volkspartei verabschieden müssen. Auch deswegen, weil das nachhaltige Denken, das Denken in ganz langen Linien sich oft mit dem Vorhaben beißt, große Massen hinter sich zu versammeln.
Ich sage gerne, wir sind die Partei des Rockes – den Menschen aber ist bekanntlich das Hemd näher. Ich gebe zu, es war für mich überraschend, dass wir hier in Baden-Württemberg in diese ganz andere Liga aufgestiegen sind. Doch trotz dieses Erfolgs möchte ich für die Grünen den Begriff Volkspartei nicht mehr beanspruchen. Ich denke, das ist ein überholter Begriff.
Welt am Sonntag: Warum?
Winfried Kretschmann: Es stammt aus dem alten Lagerdenken. Keine Volkspartei, aber eine Partei für alle. Denn der Erhalt der Lebensgrundlagen ist ein universaler Auftrag.
Welt am Sonntag: Ich meinte mit der Frage nach dem Weg noch etwas anderes. Du warst vor 25 Jahren bei den Grünen in einer ziemlich isolierten Position. Als du auf einem Parteitag wieder einmal einen Antrag begründetest, der dann grob niedergestimmt wurde, sagte Günter Bannas von der „FAZ“ zu mir, fast abschätzig: Der Mann wird immer nur eines können – verlieren.
Winfried Kretschmann: Ich persönlich war immer überzeugt, dass der Gedanke der Ökologie, der uns auf die politische Bühne getragen hat, Kraft hat, nicht untergehen wird, dass er tragen wird. Sonst hätte ich eine so lange Strecke mit diesen vielen Niederlagen, die ich einstecken musste, gar nicht durchhalten können.
Ich habe den ökologischen Gedanken stets für einen Jahrhundertgedanken gehalten. Da konnte ich nicht wirklich glauben, dass den irgendwelche Parteitagsmehrheiten an den Rand drängen können.
Welt am Sonntag: Du hast ernsthaft immer geglaubt, dass sich dein eher konservativer Gedanke der Nachhaltigkeit in einer Partei durchsetzen könnte, die damals ja ziemlich links war?
Winfried Kretschmann: Ja, davon war ich im Tiefsten überzeugt. Ich dachte immer, dass diese linken Anwandlungen dem ökologischen Gedanken fremd sind. Ich habe freilich lernen müssen, dass der soziale Blick auf die Gesellschaft wichtig ist.
Denn ohne ihn löst das Revolutionäre an der Ökologie Ängste aus. Linke Ideen konnten die Grünen nicht tragen – schon deswegen nicht, weil es dafür schon eine Partei gibt, die Sozialdemokratie.
Welt am Sonntag: Diesen Sieg der Nachhaltigkeit kann ich bei den Grünen nicht erkennen. Außerhalb des gallischen Dorfs Baden-Württemberg spielt der linke Gedanke des Umverteilens noch eine starke Rolle – das passt schlecht zu deiner Philosophie der Subsidiarität. Du bist immer noch ein Außenseiter.
Winfried Kretschmann: Woran soll man einen in der Wolle gefärbten Katholiken wie mich erkennen – wenn nicht am Subsidiaritätsgedanken? Bei den baden-württembergischen Grünen, die ich sehr stark geprägt habe, hat sich dieser Gedanke durchaus durchgesetzt.
Darin heben sich die Grünen Baden-Württembergs von anderen Landesverbänden und auch von der Gesamtpartei ab. Wir sind hier eine Partei mit einer unglaublich starken kommunalen Basis.
Welt am Sonntag: Die Deutschen hatten lange kein Faible für die Freiheit, in ihrer Mehrheit fühlten sie sich wohl unter dem schützenden Mantel des Staates und hatten nicht viel gegen den Obrigkeitsstaat. Wie sieht das heute aus?
Winfried Kretschmann: Ganz anders. Das, was wir Zivilgesellschaft nennen, ist weiter auf dem Vormarsch – da war der Widerstand gegen Stuttgart 21 für mich ein weiteres ermutigendes Signal. Derzeit haben die Lobbys und Interessenverbände die breiteren Straßen, für die Zivilgesellschaft gibt es nur kleine Trampelpfade in die Institutionen.
Das muss sich ändern, denn die Bürger sind viel selbstbewusster, auch aufmüpfiger geworden. Für mich setzt das eine Tradition aus dem 19. Jahrhundert fort, die des Vereinswesens, der Selbstorganisation der Bürger – freilich anders als früher: eher temporär und an Projekten orientiert. Diese Entwicklung ist mir sehr sympathisch.
Welt am Sonntag: Die selbstbewusste Zivilgesellschaft macht es den Regierenden, zu denen du in ein paar Wochen gehören wirst, aber nicht leichter.
Winfried Kretschmann: Gewiss nicht. Aber das ist gut so. Damit rechne ich. In einem aufgeklärten Regierungsverständnis darf man den Einspruch der Bürger nicht als Behinderung und Verzögerung sehen, sondern als eine politische Errungenschaft – die für den, der regiert, manchmal eine Last sein kann.
Damit muss man leben. Und damit auf offene Weise umzugehen, das wird die eigentliche Herausforderung einer Regierung werden, die ich führe. Die Grünen sind eine Partei, die aus dem Protest kommt. Gelingt es uns, Brücken von der Zivilgesellschaft in die Politik zu bauen?
Das ist die zentrale Frage, die wir beantworten müssen. Ich muss sagen, genau das werde ich – so etwas sage ich selten – mit Freude angehen. Eine gute politische Ordnung – das ist etwas, was mich schon immer stark interessiert hat, deswegen hat mir die Arbeit der Föderalismuskommission so gefallen. Auf diesem Spielfeld spiele ich am liebsten.
Welt am Sonntag: Das klingt wunderbar. Aber abgesehen davon, dass die Selbstorganisation der Bürger auch Ausdruck des Sankt-Florians-Prinzips sein kann – ist es eine realistische Vorstellung, die sich selbst organisierende Zivilgesellschaft könne dem Rad des Fortschritts, der Entwicklung erfolgreich in die Speichen greifen? Ist eine moderne Gesellschaft wie unsere nicht viel zu komplex, um den Bürger wirklich als Akteur zum Zuge kommen zu lassen?
Winfried Kretschmann: Nein, das glaube ich nicht. Denn die Zivilgesellschaft hat durch das Internet und soziale Netzwerke ein Medium gefunden, in dem sie sich frei flottierend organisieren kann. Das Überraschende daran ist für mich, dass mit diesen neuen Medien der Selbstorganisation die Bürger in einer gestaltenden Weise – und nicht mehr nur kritisierend oder als reine Verhinderer – eingreifen können. Um das viel zitierte Wort zu gebrauchen: Bürger und Staat begegnen sich auf Augenhöhe.
Welt am Sonntag: Die Botschaft hör’ ich wohl. Doch dieses neue und wechselseitig so wunderbare Verhältnis zwischen Politik und Bürger wurde uns schon einmal versprochen: 1998, als Rot-Grün die Bundesregierung stellte. Es kam dann aber nicht viel, es blieb bei der Ankündigung. Warum soll es jetzt besser werden?
Winfried Kretschmann: Das darfst du uns mit unserer ökolibertären Vergangenheit nicht fragen. Ich meine es sehr ernst mit dem Satz von Hannah Arendt: „Der Sinn von Politik ist Freiheit.“ Er muss eine fassbare Gestalt annehmen.
Welt am Sonntag: Und hier stehen die Grünen Baden-Württembergs hinter dir?
Winfried Kretschmann: Ja, sie wissen, dass es mein Grundanliegen ist, das Verhältnis von Staat, Markt und Bürgergesellschaft neu zu justieren.
Welt am Sonntag: Du feierst den Protest gegen Stuttgart 21 als großen Fortschritt der Zivilgesellschaft. Muss man sich die künftige baden-württembergische Zivilgesellschaft als eine Einspruchsmaschine vorstellen, die Verfahren aushebelt?
Winfried Kretschmann: Stuttgart 21 war eine Ausnahme. Wir können es ja nicht zum Alltagsprinzip unserer Politik machen, dass wir dauernd Beschlüsse umwerfen. Stuttgart 21 hat aber gezeigt, dass im politischen Prozess etwas fehlt – sonst wäre es nicht zu diesem massiven Aufstand gekommen. Wir müssen zwischen Zivilgesellschaft und Institutionen wieder zu Verfahren kommen, die wirklich breit akzeptiert sind.
Welt am Sonntag: Im Wahlkampf hast du, Stuttgart 21 betreffend, zuweilen einen unangenehmen Ton angeschlagen. Du hast dem Verfahren, das zu dem Projekt geführt hat, jegliche Legitimität abgesprochen und so getan, als hätten es ein paar Durchgeknallte putschistisch durchgedrückt. Tatsächlich gab es ein untadeliges Verfahren. Gehört es sich, Verfahren – die in der Demokratie fast heilig sind – zu Unrecht dem Verdacht des Illegalen auszusetzen?
Winfried Kretschmann: Dem Verdacht des Illegalen habe ich das Projekt nie ausgesetzt, das Verfahren hat gezeigt, dass da institutionell etwas morsch war. Sonst hätte man hinterher keine Schlichtung machen dürfen. Ein Kern der Bürgergesellschaft ist das Denken in Alternativen – „alternativlos“ ist zu Recht das Unwort des vergangenen Jahres geworden.
Dass etwas alternativlos sein soll, ist für mich gänzlich unvereinbar mit der Demokratie, deren Charme und Witz ja die Möglichkeit der Wahl zwischen Alternativen ist. Und die Bürger haben gespürt, dass im Falle von Stuttgart 21 nie ernsthaft Alternativen abgewogen wurden.
Ich habe mich bei manchen Demonstranten unbeliebt gemacht, die mit dem Plakat „Lügenpack“ durch die Gegend liefen. Ich habe immer betont, es geht nicht um Wahrheit oder Lüge und es ist nicht so, dass die Wahrheit an die Macht kommt und die Lüge abgewählt wird, wenn die Grünen in die Regierung gehen.
Welt am Sonntag: Aber es sind doch beim Verfahren von Stuttgart 21 Alternativen erwogen worden.
Winfried Kretschmann: Gewiss, das schreibt das Raumordnungsverfahren ja vor. Aber das verlief nicht nur hier nach der Methode, die man dem Vatikan bei Bischofsernennungen nachsagt: ein Blinder, ein Lahmer und einer, der dem Vatikan gefällt – und der wird es. Wenn du so willst: alternativlose Alternativen.
Es sind solche informellen Vorentscheidungen, die den Vertrauensverlust der Bürger befördern. Ich will aus Baden-Württemberg nicht den größten Debattierklub aller Zeiten machen, es muss entschieden werden. Es müssen aber immer Alternativen offen zur Debatte gestellt werden. Daran hat es bisher in unserem Land gefehlt.
Welt am Sonntag: Ich hatte nicht den Eindruck, dass im Protest gegen Stuttgart 21 nur das hehre Ansinnen am Werke war, es müsse Alternativen geben. Es spielt auch der tiefe altbundesrepublikanische Wunsch eine Rolle, alles möge genauso bleiben wie es ist. Der Philosoph Odo Marquard sagt, wir brauchen die Sicherheiten des Herkömmlichen – wir brauchen aber auch die Sprünge ins Ungewisse, die Traditionen in Gefahr bringen.
Winfried Kretschmann: Da bin ich ganz einverstanden. Aber das Projekt Stuttgart 21 ist ein veraltetes Projekt, das diesem balancierten Modernitätsanspruch nicht genügt. Die Philosophie lautet hier: Viel hilft viel. Großer Bahnhof, viel Geld in die Hand genommen – das muss etwas Gutes sein.
Wirkliche Modernität heißt, unter knappen Ressourcen – ich liebe knappe Ressourcen, denn nur die machen den Menschen kreativ – ein gutes und lohnenswertes Ziel zu erreichen. Und nicht mehr mit dem alten Füllhorn und mit der Devise: egal, was es kostet.
Es gibt den grünen Begriff vom vernetzten Denken. Der wurde so oft so vage heruntergebetet, dass er einem zum Hals heraushing und kitschig wurde. Und doch gilt er heute erst recht. Und dazu passt ein so plumpes Projekt wie Stuttgart 21 gar nicht.
Die Moderne der Zukunft ist funktional, sie setzt nicht mehr nur auf die Hardware. Und in dem Sinne sind die Grünen die moderne Partei. Sie lassen sich von einem futuristischen unterirdischen Bahnhof, der ein wenig an Abu Dhabi erinnert, nicht blenden.
Welt am Sonntag: Also gar keine Großprojekte mehr?
Winfried Kretschmann: Es hängt davon ab, was man darunter versteht. Auch das Internet ist ein Großprojekt. Was in der Frühzeit der Industrialisierung die Hochöfen und die Gruben waren, das ist heute die Infrastruktur, zu der das Internet ebenso gehört wie das reale Verkehrsnetz.
Welt am Sonntag: Was sind die infrastrukturellen Leitgedanken deiner Partei?
Winfried Kretschmann: Die herkömmlichen Großprojekte werden abnehmen müssen. Wir sind schon eine Gesellschaft mit einer dichten Infrastruktur. Wir brauchen andere Großprojekte. Für den Verkehr brauchen wir meiner Meinung nach das Großprojekt satellitengestützte PKW-Maut – ich hatte übrigens große Schwierigkeiten, das in meiner Partei durchzusetzen. Den Staus hinterherbauen zu wollen – das ist eine veraltete Vorstellung von Moderne.
Welt am Sonntag: Die Grünen sind nicht als Autofreunde bekannt. Es gibt aber ein tägliches Massenplebiszit für das Auto. Was hat das Auto den Menschen gebracht?
Winfried Kretschmann: Ganz einfach, es hat den Menschen individuelle Mobilität gebracht. Und das tut es noch immer. Deswegen wollen wir das Auto auch nicht abschaffen, sondern wollen es mit anderen Verkehrsträgern vernetzen.
Von Daimler gibt es das Projekt „Car2go“ in Ulm. Man holt den Smart via Handy irgendwo ab und lässt ihn dann einfach stehen, wenn man ihn nicht mehr braucht. In immer mehr Städten gibt es Carsharing, das sind wegweisende Angebote für eine moderne Mobilität. Das Auto wird in ein neues vernetztes Mobilitätskonzept eingebaut.
Welt am Sonntag: Ich werde den Verdacht nicht los, dass etliche Grünen-Anhänger ein weniger ausgewogenes Modernitätskonzept haben. Auf dem Weg sah ich im Eckensee, der zwischen Landtag und Staatstheater liegt, zwei junge Männer im flachen Wasser stehen, die ein Transparent mit folgender Aufschrift hochhielten: „Wenn Bauen zerstört, ist was verkehrt.“ Da soll doch alles bleiben, wie es ist.
Winfried Kretschmann: Das ist ein schöner Satz fürs Transparent, nicht für die wirkliche Welt. Bauen zerstört immer etwas. Wenn wir alles stets stehen lassen und das Neue dazubauen, dann bauen wir die Welt wirklich zu. Man muss Bewährtes erhalten, man muss aber auch neues schaffen.
Im „Bürgerlied“ aus der badischen Revolution von 1848 ist das sehr schön formuliert: „Aber ob wir Neues bauen, / Oder Altes nur verdauen, / Wie das Gras verdaut die Kuh; / Ob wir in der Welt was schaffen, / Oder nur die Welt begaffen.“ Wir erfinden immer wieder Neues hinzu, das dann in hundert Jahren das Bewährte ist. Anders ist die Welt nicht zu denken.
Welt am Sonntag: Zurück zu deiner politischen Philosophie: Haben die Deutschen von heute ein Talent zur Freiheit?
Winfried Kretschmann: Sie haben es. Sie haben es allmählich entwickelt. Und zwar weniger im Sinne der Französischen Revolution, das musste ihnen beigebogen werden, als vielmehr in der alten Tradition der deutschen Gemeindefreiheit. Ich finde es sehr ermutigend, dass diese Tradition heute wieder Aufschwung zu nehmen scheint.
Welt am Sonntag: Wilhelm von Humboldt, ein großer deutscher Liberaler, hat in seiner Schrift über die Grenzen des Staates gesagt, der Staat solle sich auf seine elementaren Aufgaben beschränken, damit die Bürger, die Einzelnen das Sagen haben, möglichst große Entfaltungsmöglichkeiten haben und ihr Schicksal selbst bestimmen können. Teilst du diesen Gedanken?
Winfried Kretschmann: Das sehe ich auch so. Wir brauchen einen klaren Ordnungsrahmen, in dem die Wirtschaft, die Gruppen und die Einzelnen sich entfalten können. Der Staat muss nur stark sein in der Durchsetzung des Ordnungsrahmens, der Regeln.
Beglücken und vorschreiben soll er nicht. Er soll nur für den Freiheitsrahmen sorgen. Es geht mir dabei aber nicht nur um die Freiheit des Individuums, sondern auch um die Freiheit von Gruppen, von Subkulturen, von Gemeinschaften.
Welt am Sonntag: Eine der Paradoxien der kommenden Regierung Baden-Württembergs ist, dass sie von zwei Parteien getragen sein wird, die in einem zentralen Punkt, Stuttgart 21, diametral entgegengesetzter Meinung sind und nicht zusammenkommen können.
Das dürfte eine schwere Belastung für die Regierung werden. Kann es sein, dass hinter den Kulissen alles versucht wird, um das Thema gegenstandslos zu machen? Etwa dadurch, dass der Stresstest deutlich höhere Kosten ergibt und dann auch die Bahn Abstand nimmt?
Winfried Kretschmann: Es ist denkbar, dass es dann nicht zur Volksabstimmung kommt, wenn sich das Projekt selber begräbt – dann nämlich, wenn sich herausstellt, dass es nicht wirklich funktioniert oder finanzierbar ist.
Welt am Sonntag: Käme es aber doch zur Volksabstimmung und sie ginge mit einem Ja zu Stuttgart 21 aus, wäre das dann verbindlich für eine von dir geführte Landesregierung?
Winfried Kretschmann: Es ist der Sinn von Volksabstimmungen in der Demokratie, dass das Volk das letzte Wort hat.
Welt am Sonntag: Eine zweite Paradoxie besteht darin, dass du – ein Politiker der Zuversicht – nun Ministerpräsident wirst auf der Grundlage einer Wahl, bei der die Angst – Atom, Fukushima – das Zepter geschwungen hat. Bedrückt dich das?
Winfried Kretschmann: Meine Erfahrung in der Politik im Allgemeinen und Wahlkämpfen im Besonderen ist, dass man sich engagieren und ins Zeug legen kann und muss. Es geschehen, im Positiven wie im Negativen, immer Dinge, auf die wir keinen Einfluss haben.
Deswegen gehe ich dieses Amt in Bescheidenheit an und in dem Bewusstsein, dass es kontingente Dinge gibt, auf die ich keinen Einfluss habe. Ich habe als Christ kein Problem damit, vieles ist auch Gabe und Geschenk. Ich weiß, dass ich immer nur einen Teil bewirken kann und wie jeder andere Mensch auch von Dingen abhängig bin, die nicht in meiner Macht stehen.
Welt am Sonntag: Eine dritte Paradoxie ist die, dass du unter außergewöhnlichen, hybriden Bedingungen Ministerpräsident wirst und das ganz genau weißt. Denn die Wahrscheinlichkeit, in fünf Jahren wieder ein solches Ergebnis zu erzielen, ist minimal. Ist es eine Last oder befreit es dich, dass du nur diese eine Chance hast?
Winfried Kretschmann: Das Entscheidende an Politik ist, dass sie Dinge bewirken kann, die ohne sie nicht geschähen. Das ist gemeint, wenn Hannah Arendt sagt: Wo, wenn nicht in der Politik, können Wunder geschehen?
Also Dinge, die man nicht erwartet, die in allen Zukunftsprognosen nicht enthalten sind. Wenn etwas gegen alle Erwartungen geschieht, dann muss man diese Chance nützen. Wie es später weitergeht, darüber mache ich mir jetzt keine Gedanken.
Welt am Sonntag: Du bist der erste Grüne, der nicht nur ein Ministeramt, sondern die Gesamtverantwortung für ein Bundesland übernimmt. Wie fühlst du dich damit?
Winfried Kretschmann: Erst einmal habe ich großen Respekt vor dem Amt. Das Land, das ich zu führen haben werde, ist ein starkes Land, eine der stärksten Industrieregionen Europas. Es ist auch für meine Partei eine unglaubliche Herausforderung.
Ich habe immer gesagt, das Amt muss zum Manne kommen. So ist es nun geschehen – und jetzt muss ich auch das Vertrauen haben, dass ich es gut ausfüllen kann. Ich bin davon überzeugt: Wäre es nicht so, dann wäre es auch nicht auf uns zugekommen.
Welt am Sonntag: Berthold Leibinger, ein bekannter Unternehmer und früher Chef von Trumpf, hat nach der Wahl gesagt, Kretschmann sei „ein braver Mann“ – er sei sich aber nicht sicher, ob der Rest der Grünen ein Verständnis dafür habe, dass die Regierung sorgsam mit der Wirtschaft des Landes umgehen muss.
Winfried Kretschmann: In einer Partei wie den Grünen kommt man nicht zufällig in ein Führungsamt. Die Grünen Baden-Württembergs repräsentiere ich, aber nicht hundertprozentig, und es gibt auch noch Sperriges. Aber im Großen und Ganzen weiß meine Partei sehr gut, welche Bedeutung die Wirtschaft hat.
Welt am Sonntag: Noch einmal: Weiß deine Partei, welches Juwel sie in Gestalt des Landes Baden-Württemberg nun gewissermaßen in die Hand bekommt?
Winfried Kretschmann: Da kann ich nur sagen: Wer, wenn nicht dieses starke Land mit seiner ausgeprägten Universitäts- und Forschungslandschaft, mit seinen hervorragenden Entwicklungsabteilungen in der mittelständischen Industrie, kann denn besser zeigen, dass Ökonomie und Ökologie in die gleiche Richtung nicht nur gehen müssen, sondern auch können.
Baden-Württemberg kann die Zukunftswerkstatt für grüne Produktlinien werden. Gerade wir hier können die Revolution im Ressourcen- und Energieverbrauch schaffen. Das ist das Schöne der Herausforderung.
Welt am Sonntag: Wie würdest Du einem Fremden das schöne Bundesland Baden-Württemberg beschreiben und anpreisen?
Baden-Württemberg zeichnet aus, dass es sehr selbstbewusste Regionen hat. Es ist ein Land ohne wirklichen Zentralismus – das hat es stark gemacht. Die Regionen strahlen fast so etwas wie eine gesellschaftliche Autonomie aus.
Welt am Sonntag: Lass uns auf Details Deiner zukünftigen Politik eingehen. Der Liberale Ralf Dahrendorf war mit guten Argumenten für Studiengebühren – die neue Landesregierung will sie nicht. Warum?
Winfried Kretschmann: Um ehrlich zu sein: Auf dem Parteitag, der das grüne Wahlprogramm beschlossen hat, bin ich in der Frage der Studiengebühren unterlegen. Unser Antrag für nachlaufende Studiengebühren bekam nur 40 Prozent der Delegiertenstimmen. Jetzt werden wir den Beschluss umsetzen, das verlangt auch unser sozialdemokratischer Koalitionspartner. Ich würde um diese Frage kein so großes Bohai machen. Mehr Steuern oder Studiengebühren, es zahlt ungefähr die gleiche Bevölkerungsgruppe.
Welt am Sonntag: Und warum Gemeinschaftsschule?
Winfried Kretschmann: Die Debatte um die Gemeinschaftsschule ist zwei Dingen geschuldet. Die Entkoppelung des Bildungserfolgs von der Herkunft ist eine soziale Herausforderung, die wir zu bestehen haben.
Es hat aber auch mit der demografischen Entwicklung zu tun. In zehn Jahren werden wir etwa 20.000 Schülerinnen und Schüler weniger haben. Dafür müssen wir neue Strukturen schaffen.
Unsere Parole lautet ja nicht Gemeinschaftsschule, sondern individuelle Förderung. Die Gemeinschaftsschule ist ein Instrument, nicht das Ziel. Das Gymnasium wird dadurch überhaupt nicht in Frage gestellt. In Hamburg bestand der Fehler darin, dass man die Mittel mit dem Ziel verwechselte.
Welt am Sonntag: Ist Ungleichheit ein Motor von Entwicklung?
Winfried Kretschmann: Unsere Gesellschaft ist ungleicher geworden. Grundsätzlich gilt: Wo es Freiheit gibt, gibt es auch Ungleichheit. Hier stellt sich die Frage nach dem Ordnungsrahmen: Der muss die Ungleichheit einhegen.
Ich bin da ein Anhänger des Rechtsphilosophen John Rawls, der sagt: Eine Gesellschaft, die – aus guten Gründen – Ungleichheit toleriert, muss alles tun, um Chancengerechtigkeit zu schaffen.
Welt am Sonntag: Du bist ein entschiedener Verfechter strikter Haushaltskonsolidierung. Für 2019 versprichst Du einen schuldenfreien Haushalt. Alle politischen Züge fahren aber in die entgegengesetzte Richtung. Wie willst Du dieses extrem ehrgeizige Ziel schaffen? Auch bei den Grünen gibt es ja etliche, die gerne Steuergelder ausgeben.
Winfried Kretschmann: Der Spitzenkandidat der SPD, Nils Schmid, ist finanzpolitischer Sprecher seiner Fraktion gewesen. Auch er ist für Haushaltskonsolidierung, da liegen wir also auf einer Linie. Wir müssen das schaffen. Denn wir sind uns bewusst, dass das die große Angriffsflanke der Opposition sein wird. Wir werden ja gegen die stärkste Partei im Landtag, die CDU, regieren, das ist ja ungewöhnlich. Schon aus machtstrategischen Gründen müssen wir das schaffen.
Ich bin aber auch aus inhaltlichen Gründen ein großer Verfechter der Schuldenbremse, die ich in der Föderalismuskommission mit durchgesetzt habe. Ohne die Schuldenbremse werden wir unsere Gestaltungsmöglichkeiten komplett einbüßen – deswegen ist das für mich eine ganz elementare Sache.
Welt am Sonntag: Dennoch: Wird Dir nicht bang, den schuldenfreien Haushalt für 2019 zu versprechen?
Winfried Kretschmann: Nicht wirklich. Ich bin mir sicher, dass das zu schaffen ist.
Welt am Sonntag: Bei der Landtagswahl gab es ein Direktmandat für die SPD, neun Direktmandate für die Grünen und 60 für die CDU. Wie willst Du in diesem auf dem Wahlatlas schwarz eingefärbten Land alle Bürger von der Richtigkeit Deiner Politik überzeugen?
Winfried Kretschmann: Wir haben eine Chance, wenn wir das Ziel der Haushaltskonsolidierung erreichen. Denn es ist ein der CDU-Wählerschaft wichtiges Anliegen. Wir müssen das immer noch vorhandene Vorurteil zerstreuen, dass ökologische Politik die Wirtschaft behindere. Und zeigen, dass die Ressourcen- und Energierevolution die Voraussetzung dafür ist, dass wir die Wettbewerbsfähigkeit auf den Weltmärkten behaupten.
Welt am Sonntag: Ein führender SPD-Politiker hat herablassend gesagt, der Kretschmann wird nur der Primus inter pares sein.
Winfried Kretschmann: Wir werden eine Koalition auf Augenhöhe machen, anders wird es nicht funktionieren, unsere beiden Parteien liegen ja fast gleichauf. Wir beide werden dieses Land führen, aber ich werde der Ministerpräsident sein und führen.
Welt am Sonntag: Du zitierst gerne und ausführlich die Publizistin und Philosophin Hannah Arendt. Wer zählt außer ihr zu Deinen politisch-philosophischen Leitsternen?
Winfried Kretschmann: Eigentlich alle, die zur großen Tradition unseres Staats- und Gesellschaftsdenkens gehören. Im Grunde aber wurzelt mein politisches Denken in der antiken Polis.
Welt am Sonntag: Welchen von den vielen Dichtern aus Baden-Württemberg magst Du besonders?
Winfried Kretschmann: Friedrich Schiller. Ich finde, dass er mit seinem ästhetischen Blick auf die Gesellschaft noch immer sehr modern ist.
Welt am Sonntag: Wie gelingt es Dir, ein gläubiger Mensch in dieser katholischen Kirche zu sein?
Winfried Kretschmann: Ich bin ein skeptischer Gläubiger. Man ist eigentlich wegen Jesus Christus in der Kirche, und ein Sünder wie ich passt in eine auch sündige Kirche.
Das Interview führte Thomas Schmid.
Quelle: Welt am Sonntag/welt.de