Im Streit um das Bahnprojekt Stuttgart 21 wirft Grünen-Fraktionschef Winfried Kretschmann Ministerpräsident Stefan Mappus vor, die Demonstranten in die Ecke von Gewalttätern zu stellen. Im Interview mit Oliver Stortz bekräftigt er seine Forderung nach einem Baustopp.
Eßlinger Zeitung: Das Aktionsbündnis gegen Stuttgart 21 hat weiteren Gesprächen mit den Machern vorläufig eine Absage erteilt. Eine kluge Entscheidung?
Kretschmann: Die Projektbefürworter müssen ein Signal setzen, dass es ihnen um ernsthafte und offene Gespräche geht. Sie wollen mit uns immer darüber reden, wie die freiwerdende Fläche gestaltet wird. Diese Frage steht aber nicht an. Wir wollen diskutieren, ob das Gesamtprojekt überhaupt sinnvoll und bezahlbar ist.
Eßlinger Zeitung: Sie hatten den ersten Anlauf genommen, ein Sondierungsgespräch einzuberufen und sich dabei, wie Sie selbst sagten, einige Blessuren geholt. Wie bewerten Sie die Ergebnisse der Runde vom vergangenen Freitag?
Kretschmann: Von einem ersten Gespräch konnte man nicht mehr erwarten. Gegner und Befürworter haben einen Gesprächsfaden aufgenommen, das ist wichtig. Dies war auch mein Anliegen in dem gemeinsamen Vorstoß mit dem Ministerpräsidenten. Aber die Gegenseite war damals nicht bereit, den Bagger fünf Tage stehen zu lassen. Alle, ob sie sich für oder gegen Stuttgart 21 engagieren, müssen doch daran interessiert sein, dass es nicht immer weiter zur Polarisierung oder gar zur Eskalation des Protests kommt.
Eßlinger Zeitung: Die Teilnehmerzahlen an den Demonstrationen haben in den vergangenen Wochen nachgelassen. Geht den Gegnern die Luft aus?
Kretschmann: Nein, auch wenn es ein Kraftakt ist, jede Woche zwei Mal Zehntausende auf die Straße zu bringen. Ich erwarte, dass der Protest eher noch zunehmen wird, wenn die Gegenseite sich nicht bewegt.
Eßlinger Zeitung: Der Ministerpräsident sieht ohnehin Berufsdemonstranten am Werk…
Kretschmann: Das ist hilflose Polemik. Jeder, der bei einer Demonstration dabei war, weiß, wie abwegig das ist. Der Protest ist in allen Schichten der Bevölkerung verankert. Einer der Gründe für die Demonstrationen sind genau solche Äußerungen. Die Menschen fühlen sich nicht ernst genommen. Entweder wird abgewunken und heruntergespielt – oder wie jetzt sogar versucht, die Protestierenden in eine Ecke mit Gewalttätern zu stellen. Das geht schief. Dass der Ministerpräsident sich zu solchen Äußerungen hinreißen lässt, zeigt die Kluft zwischen CDU und der Bürgerschaft.
Eßlinger Zeitung: Den Bereich vor dem Nordflügel haben Gegner per Plakat „Platz des Himmlischen Friedens“ getauft und ein per Video aufgezeichnetes Gelöbnis während einer Montagsdemonstration ist skurriles Zeugnis des Protests. Sind Ihnen die Formen des Widerstands suspekt?
Kretschmann: Solche Vergleiche sind natürlich abwegig. Aber die ersten, die das Thema emotional aufgeladen haben, waren die Befürworter. Sie haben Stuttgart 21 als Leuchtturmprojekt hingestellt. Und jetzt erwecken sie den Eindruck, als seien die Alternativen sozusagen der Morgenthau-Plan für Baden-Württemberg. Auch das ist völlig überspannt und überzogen.
Eßlinger Zeitung: Der Ministerpräsident will auch um den Preis des Machtverlusts an Stuttgart 21 festhalten. Beneiden Sie ihn um seine Selbstlosigkeit?
Kretschmann: Was soll er auch anderes sagen?
Eßlinger Zeitung: Stuttgarts Oberbürgermeister Wolfgang Schuster hat am Freitagmorgen den Gegnern am Runden Tisch Dialogbereitschaft zugesagt, bei der Volksfesteröffnung am Abend hat er über sie gespottet. Wie bewerten Sie sein Agieren in dem Konflikt?
Kretschmann: Es ist mir völlig unverständlich und unbegreiflich, wie wenig ernst der Oberbürgermeister die Spaltung seiner eigenen Stadt nimmt. Das kann ich nicht mehr nachvollziehen. Es ist die erste Pflicht eines Oberbürgermeisters, für die Einheit seiner Stadt zu kämpfen und dafür Sorge zu tragen, dass sich die Menschen nicht unversöhnlich gegenüber stehen. Dass er das nicht tut, ist ein schweres politisches Versagen.
Eßlinger Zeitung: Die Grünen wollen den Ausstieg für den Fall einer Regierungsbeteiligung nach der Landtagswahl nicht versprechen, aber alles dafür tun. Welche rechtlichen Hebel sehen Sie überhaupt, sich seitens des Landes aus dem Vertrag zu stehlen?
Kretschmann: Stuttgart 21 und die Neubaustrecke sind Projekte, an denen ausschließlich die öffentliche Hand und die Bahn, die zu hundert Prozent dem Bund gehört, beteiligt sind. Es ist also in erster Linie eine politische Frage, ob man aussteigen möchte oder nicht. Die politischen Ebenen können sich immer einigen, wenn sie es wollen. Insofern ist Stuttgart 21 natürlich umkehrbar, wenn die Sache nicht zu weit fortgeschritten ist. Je früher man aussteigt, desto günstiger wird es. Deshalb fordern wir ein Moratorium.
Eßlinger Zeitung: Gibt es keinen Baustopp, werden bis März beide Seitenflügel abgerissen und die Bäume im Schlossgarten gefällt sein. Ist nach der Landtagswahl der Zeitpunkt nicht vorbei, bis zu dem ein Ausstieg möglich ist?
Kretschmann: Der Ausstieg ist möglich, solange er kostengünstiger ist, als wenn Milliarde um Milliarde draufgesattelt werden muss. Deswegen ist es entscheidend, dass sich die Befürworter auf die Klärung der Frage einlassen, was dieses Projekt wirklich kostet. Wir haben dazu ein Gutachten vorgelegt. Dieses geht von Kosten von mindestens zehn Milliarden Euro für Stuttgart 21 und die Neubaustrecke aus. Aber außer Polemik haben wir dazu bisher nichts gehört. Über die Zahlen muss jetzt Klarheit geschaffen werden, nicht erst in acht Monaten.
Eßlinger Zeitung: Sehen Sie eine realistische Möglichkeit, den von der SPD geforderten Volksentscheid verfassungskonform durchzuführen?
Kretschmann: Wir warten ab, was die juristische Prüfung dieses Vorschlags ergibt. Die CDU-Fraktion hat einen Volksentscheid bereits abgelehnt, die Regierung lässt ihn noch begutachten. Das ist ein widersprüchliches Verhalten.
Eßlinger Zeitung: Umfragen sehen die Grünen im Höhenflug. Haben Sie Höhenangst?
Kretschmann: Wir bleiben auf dem Teppich, auch wenn der Teppich fliegt.
Eßlinger Zeitung: Die SPD hat sich mit ihrer Forderung nach einem Volksentscheid den Grünen angenähert. Sehen Sie noch Chancen, mit einem anderen Partner ins Boot zu steigen?
Kretschmann: Wer mit uns koalieren will, muss unsere Kernanliegen mit durchsetzen wollen. Der Ausstieg aus der Atomenergie und der Aufbau dessen, was wir Sonnenenergiewirtschaft nennen, ist ein Beispiel. Auch in der Bildungspolitik wollen wir das dreigliedrige Schulsystem anderen Ansätzen öffnen.
Eßlinger Zeitung: Schwarz-Grün wird es folglich nicht geben…
Kretschmann: Jedenfalls müsste die CDU ganz hoch springen. Mit der Agenda, die sie zurzeit propagiert, könnte sie mit uns nicht koalieren.
Eßlinger Zeitung: Gilt die ungeschriebene Regel, dass der stärkere Koalitionspartner den Regierungschef stellt, uneingeschränkt für die Südwest-Grünen?
Kretschmann: Sicher.