Zu Winfried Kretschmanns 70. Geburtstag war Robert Habeck in Stuttgart zu einer Diskussion eingeladen. Dort diskutierten Winfried Kretschmann und er die Frage, wie man den bedrohten liberalen Kern der Demokratie stärkt. Habeck warb für mehr Radikalität und Kretschmann für Maß und Mitte. Hier erklärt der Bundesvorsitzende, warum das kein Widerspruch sein muss.
Robert Habeck über Radikalität in Grüne Blätter 2/2018: Gedanken & Spiele
Ich weiß, was Kretsch meint, wenn er vor Radikalismen warnt und finde das ausdrücklich richtig – gerade jetzt, wo sich das Völkische und Antieuropäische Bahn bricht. Wer glaubt, er sei im Besitz der Wahrheit, hat nicht verstanden, was Demokratie ist. Es geht nämlich in ihr nicht um Wahrheit, sondern um Argumente. Um das zu bewahren, müssen wir aber über das Bestehende hinausdenken. Das meine ich mit radikal.
Hardcore und abgefahren
Neulich war ich im Theater und sah Milo Raus „Lenin“. Etwa zur Mitte des Stückes zitiert Trotzki Lenin, der wiederum Hegel zitiert. Und zuhause las ich das nach. Warnung: Es wird jetzt ein bisschen hardcore und abgefahren. Hegel unterscheidet in der „Wissenschaft der Logik“ Maßverhältnisse – quantitative und qualitative. Für die quantitativen Verhältnisse stellt er fest, dass diese äußerlich sind und sich allmählich ändern. „Aber die Allmählichkeit betrifft nur das Äußerliche der Veränderung, nicht das Qualitative derselben. Man sucht sich gern durch die Allmählichkeit des Übergangs eine Veränderung begreiflich zu machen; aber vielmehr ist die Allmählichkeit gerade die bloß gleichgültige Änderung, das Gegenteil der qualitativen. Hierdurch wird gerade das, was zum Begreifen nötig ist, entfernt.“
Das klingt wie eine politische Lagebeschreibung. An der Oberfläche werden Probleme gelöst, aber oft geht es nur um quantitative. Wir machen nur mehr vom Gleichen (und manchmal weniger). Dabei ist dies „bloß gleichgültige Änderung“.
Beispiele? Die Debatten über mehr oder weniger Europa. Dabei lautet die Frage doch, wie geht es weiter, wenn Amerika seine Interessen, egal um welchen Preis, in einem Absolutheitsanspruch an die erste Stelle setzt? Dass eine nationale Antwort da weiterhilft, können nur Nationalisten glauben, oder Menschen, die nichts mehr wollen. Die Allmählichen, sozusagen.
Radikal ist das neue Realistisch
Oder am Beispiel Klimawandel: Die Große Koalition ist sich einig, Themen wie die Energiewende oder Fluchtursachen als grünes Nischenthema abzutun, um die Angriffsflanke des Rechtspopulismus zu verkleinern. Das Starren auf die Rechten aber „betrifft nur das Äußerliche der Veränderung“. Der Klimawandel wird zu dramatischen Fluchtbewegungen führen. Und wir werden dann Entscheidungen treffen müssen, die das Wesen unserer liberalen Demokratie und unserer Werteordnung umstürzen können. Mit der Energiewende verteidigen wir also in Wahrheit Liberalität und Werte.
Auf unserem Parteitag nannten wir das „Radikal ist das neue Realistisch“. Hegel nennt die Alternative zur Allmählichkeit einen Sprung. „Das Wasser wird durch die Erkältung nicht nach und nach hart, so daß es breiartig würde und allmählich bis zur Konsistenz des Eises sich verhärtete, sondern ist auf einmal hart. Alle Geburt und Tod sind, statt eine fortgesetzte Allmählichkeit zu sein, vielmehr ein Abbrechen derselben und der Sprung aus quantitativer Veränderung in qualitative.“ Das ist der Sprung ins Qualitative, um den geht es. Und wenn sich die Große Koalition durch Allmählichkeit rettet, müssen wir springen.
Blut und Sauerstoff für das Herz der Republik
Ich denke, Kretsch sieht das so ähnlich. So nähern wir uns dem gleichen Anspruch: Eine Politik zu entwerfen, die das schlaff schlagende Herz der liberalsten deutschen Republik, die wir je hatten, mit Blut und Sauerstoff versorgt und zeigt, dass es gelingen kann.
Die lange Fassung dieses Beitrags könnt ihr auf Roberts Blog lesen
Ein Beitrag aus unserer Mitgliederzeitschrift über grüne Perspektiven: Grüne Blätter 2/2018: Gedanken & Spiele